Sonntag, 13. März 2005

Beim Aufräumen gefunden. Ein alter Text über eine Begegnung, die vielleicht schon sechs Jahre her ist. Ich hatte vor vielen Jahren mal eine Freundin in Rheinbach. Eine schöne Frau, lange schwarze Haare, ein wenig gruftig, so wie die meisten Ende der 80er. Sie hatte Humor, war schlagfertig und ungeduldig, weswegen sie die Sache mit uns auch beendete, weil sie keine Lust mehr darauf hatte, dass wir uns nur am Wochenende sehen. Ihr großer Wunsch war vor allem: Weg. Weit weg aus dem Dorf, vielleicht Kunst studieren, auf jeden Fall irgendwas studieren und sich bilden. Ein anderes Leben, als das ihrer Eltern, die im Dorf geboren waren. Jahre später traf ich in Hamburg (!) einen gemeinsamen Freund aus der Zeit, der mir wilde Sachen über sie berichtete und mir ihre Telefonnummer gab. Wir trafen uns dann an einem trüben Wintertag kurz vor Weihnachten in einem Café. Die Zitate von ihr stehen so in dem Heft, dass ich gerade fand, erinnern kann ich mich nur noch an wenige. Ich hab die Geschichte etwas überarbeitet.

Deutlich abgemagert wirkt sie, als ich sie nach langer Zeit das erste Mal wieder sehe. Ich weiß erst gar nicht, wo ich hin schauen solle, denn ein bisschen peinlich ist mir das Treffen auch. Während ich darüber rede, wie unverändert doch hier alles sei, suche ich Punkte in ihrem Gesicht, an denen sich meine Erinnerungen verankern können, die mir die gleichen Geschichten erzählen wie damals, als ihr Gesicht noch fülliger war. Vielleicht war das damals noch Babyspeck, denke ich leise und bestelle in dem muffigen Café dass sie ausgesucht hat eine Cola, da werden sie schon nichts bei falsch machen können. Ich bekomme eine winzige 0,2 l Cola-Flasche, ein 0,2l Colaglas mit grünen Rand oben in dem zwei Eiswürfel und eine dünne Scheibe Zitrone auf ihren Einsatz warteten, sie nimmt einen Cappuccino, den gibt’s hier mit Schlagsahne statt aufgeschäumter Milch, aber das scheint sie nicht zu stören. Ich fische die Zitrone aus dem Glas und sage "Hab doch gar keinen Salat bestellt" und sie lacht etwas nervös und packt die dünnen Zigaretten aus, die heute keiner mehr raucht. "Siehst gut aus," lüge ich, bemühe mich ihr dabei nicht in die Augen zu sehen und hasse mich schon selber für meine Idee, hier hin gefahren zu sein. Sie zupft sich unsicher an einem Ohrläppchen und fährt sich durch die dunkel gefärbten Haare. Abwechselnd zieht sie mit spitzen Lippen an ihrer Zigaretten, klopft sie nervös am "HB" Aschenbecher ab und trinkt ihren Cappuccino. Sie sagt kaum was, lässt mich erzählen, was ich so gemacht habe. Nach der gemeinsamen Zeit wieder nach Bonn, dann Köln, dann Hamburg. Von Hamburg will sie eine Menge wissen. Wie es da sei, der Hafen, die Geschäfte, die Kneipen, die Reeperbahn, ob ich auch mal mit einer Nutte geschlafen hätte, und sie glaubt mir das nicht, dass ich nie in einem Puff war und bläst mir den Rauch ins Gesicht. Für einen Moment taucht da das spöttische Lachen in ihren Augen auf, dieses Blitzen, das mich damals so fasziniert hat, das sie auch auflegte, wenn sie sich auf dem Bett über mich kniete, ihr T-Shirt auszog um dann ihre Haut auf meine zu legen. Aber das Blitzen verschwindet wieder hinter dieser Wolke aus Unsicherheit und ich meine Angst zu erkennen und frage sie, ob sie sich wohl fühlt. "Büschen nervös" flüstert sie. Ich glaube ihr das nicht, ich sehe da noch was anderes hinter der brüchigen Fassade, also frage ich nach ihrem Leben.

Zwei Kinder hat sie, ein Junge, eine Tochter vier und sechs Jahre alt, sie wohnt in einer Wohnung in Rheinbach, nicht weit weg von diesem Café, leider kein Balkon, aber ein Spielplatz um die Ecke, das ist ja wichtig. "Und dein Mann", frage ich. Sie drückt die Zigarette aus. Ja, doch. Mann hatte sie auch. Ob ich mich noch an G. erinnern könnte, ich schüttel den Kopf. "Doch, "beharrt sie, " den kennste, der war auch immer dabei, der war doch mit der Kleinen aus dem Schreibwarenladen zusammen." Ich schüttel den Kopf und krame in meinen Erinnerungen. "Ach komm, den musste noch kennen. Das war doch der mit dem Passat, der uns immer zum See raus gefahren hat und dann daneben gelegen hat, während wir, du weißt schon." Die Erinnerung kommt wieder und ich muss mich beherrschen nicht "Du hast diesen Deppen geheiratet?" zu sagen, also lüge ich weiter. Natürlich, G. . Ein traditioneller Idiot wie man ihn in jedem Dorf findet. Der Kerl, der ein bisschen zurückgeblieben scheint, nett zwar, aber irgendwie komisch, mit merkwürdigen Hobbys aber dem Auto von seinen Eltern, mit der einen quer durch die Gegend gefahren hat, nur um dabei sein zu können. Diese Sorte von nicht netten Deppen, die sich ein wenig ausnutzen lassen aber auch was dafür haben wollen, und in unserem Fall wollte er immer nur neben uns liegen und sich einen runterholen, während wir am See knutschten oder ich ihr mal zwischen die Beine fasste. So was vergisst man natürlich nicht. Ich gebe also auf "Den haste Du jetzt nicht ernsthaft geheiratet" sag ich, und sie sinkt ein wenig in sich zusammen und sagt "Doch". Wolltest Du nicht mal Kunst studieren und aus diesem Kaff hier weg?" frage ich und sie dreht die Asche ihrer Zigarette an der Glaswand des Aschenbechers ab. "Ja, Kunst, da ist lang her." Pause. "Klingt blöd, wenn man das sagt, oder?" Warum sie hier geblieben ist, frage ich und sie beginnt zu erzählen, während ich zuschaue, wie sie dabei die kleinen, alten Hautstückchen von ihren Fingern entfernt.

Erstmal sei gar nicht passiert. Nachdem ich weg war, habe sie ganz normal Abi gemacht, dann zu Hause ausgezogen, dann nach Bonn zum Studium, aber nur ein Semester, dann sei ihr Vater gestorben. Einfach umgefallen. Ihr Vater war so ein kleiner, kugeliger Mann. Typ ehrlicher Arbeiter, in der Woche meist im Blaumann, am Wochenende eher in den "guten Sachen", mit einem Hobbykeller in dem er alte Gartenmöbel aufpolierte und nebenbei verkaufte. Ein Mann mit dem typischen Dorf-Humor, einer, den man in der Kneipe treffen konnte, der mal Kassenwart im Skatverein war, der zum Schützenfest ging und dann eines morgens von seiner Frau tot im Hobbykeller gefunden wurde. Das sei ja schon schlimm gewesen, aber ihre Mutter habe das nicht verkraftet und kaum ein halbes Jahr später habe sie einen schweren Schlaganfall bekommen. Der Arzt habe gemeint, da sei nichts mehr zu machen, dass sei ein Pflegefall, da lohne sich kaum eine Reha, und sie, sie hatte ja keine Ahnung, war ja gerade 20 oder so, und aus der Familie kam auch keine Hilfe, also sei sie wieder zu Hause eingezogen und habe die Mutter gepflegt. Erst so, dann habe sie eine Pflegeausbildung gemacht, damit sie die Mutter wenigstens vernünftig versorgen können und einen Job habe. Also tagsüber Ausbildung, den Rest des Tages die Mutter, die kaum noch sprechen und sich nicht mehr bewegen konnte. Nicht mal zur Toilette. "Es ist eine Sache," berichtet sie leise, "wenn man seine Mutter ausziehen und waschen muss. Eine andere ist Sache mit der Toilette." und ich kann mir vorstellen, was sie meint. Da sei kein Platz gewesen. Für nichts. Sie habe keine Zeit mehr gehabt, vielleicht Abends mal eine Stunde vor dem Fernseher, aber das war es. Manchmal steckte ihr ein Onkel einen Hunderter zu, dann fuhr sie mit der Bahn nach Bonn und plötzlich blitzen die Augen, als sie mir ohne Scham, so als ob wir uns seit Jahren gut kennen würden, erzählt "Ich hab mich von jedem ficken lassen, der es wollte. Es war so leicht. Ich musste nur an der Tanzfläche stehen und mir einen aussuchen, dann sind wir in sein Auto oder manchmal auch nur aufs Klo. Ich hab mir meinen Spaß geklaut. Es war wie ein Diebstahl, denn ich konnte ja nie eine Nacht bei einem bleiben, weil ich am nächsten Morgen wieder bei meiner Mutter sein musste. Und mitnehmen wollte ich auch keinen, denn ich wollte nicht mit dem zu mir fahren, um da erst mal meine Mutter von ihrem Kot zu befreien. Also hab ich sie gleich da genommen. Alle hatten Spaß, ich wollte auch." Dabei lacht sie laut, vor allem in dem Moment, als von den Erlebnissen im Auto berichtet. Ich merke, dass sie mit was spielt und fühle mich in meiner Ecke unwohl.

Manchmal dachte sie darüber nach, die Mutter einfach umzubringen. Aber sie hatte nicht den Mut, die Kraft und sie habe sich schuldig gefühlt, allein bei dem Gedanken. Also machte sie weiter. Und sie musste lange weiter machen. "Normalerweise," sagte sie ohne die Stimme zu verändern, "normalerweise bekommen so Patienten irgendwann eine Lungenentzündung oder eine Embolie. Das geht dann meist schnell, weil der schwache Körper sich nicht mehr wehren kann. Aber nicht bei meiner Mutter. Die war stark." Also machte sie weiter. Zehn Jahre. In der Zwischenzeit versuchte sie immer wieder ihre Mutter in einem Pflegeheim unterzubringen, aber das war zu teuer, selbst dann, als der Onkel starb und ihr eine kleine Summe vererbte. "Weißte, ich hätt davon auch meine Mutter im Heim unterbringen können, wenigstens ein oder zwei Jahre. Aber ich dachte mir immer, dass ich das Geld lieber behalten will für die Zeit danach. Ich wollte wegfahren. Indien. Oder mal nach Kuba." Ihre Blicke haben sich mittlerweile auf mich konzentriert, sie flackern nicht mehr, sind ganz still und voller Ruhe. Eine ältliche Kellnerin hat den Dienst übernommen, begrüßt sie als sie und eine neue Runde auf den Tisch stellt mit dem Vornamen und mich mit einem stummen Blick.

Die Mutter wollte nicht sterben und sie verlor immer mehr den Spaß am Leben. Sie saß zu Hause rum, kiffte, soff, blätterte in Reiseprospekten und malte sich das aus, wie das ist, am Strand von Kuba, alleine, ohne Mutter, ohne Verpflichtung. Sie stellte sich vor, dass sie dort einen Engländer kennen lernen würde, einer der so aussah wie Simon LeBon, mit dem sie immer auf Englisch diskutierte und der sie zum Essen einlud. "Ich hab mir das in allen Farben ausgemalt, dass kann man sich gar nicht vorstellen. Jeden Abend immer die gleiche Phantasie, die immer detaillierter wurde, ich hab sogar auf Englisch mit mir selber gesprochen." Aber statt englischen Edelmann kam eben G. . Sie seufzte tief. "So'n Abend inner Kneipe halt. Hab mir mal ne Auszeit genommen und dann war da eben plötzlich auch G." Mittlerweile mit Bauch und eigenem Passat ausgestattet. Die Mutter machte G. nichts aus, er half sogar ein wenig bei der Pflege. "Weisste, er machte mir echt Sonne ins Leben. Jahrelang hab ich nur rum gesessen, und plötzlich war da einer, der sogar morgens neben einem aufwachte." G. war zwar arbeitslos, arbeitete aber nebenbei schwarz als Dachdecker und brachte so eine gute Menge Geld ins Haus. Es entwickelte sich eine Romanze und eines Tages fuhr er mit ihr übers Wochenende nach Bad Kreuznach. "Er hatte alles organisiert. Eine Pflegehilfe für meine Mutter, das Hotel. Ich wusste genau was kommen würde." Die Hochzeit war bescheiden, G. zog ein und sie wurde schwanger.

"Natürlich war das alles scheiße." Sie zieht wie zur Entschuldigung die Schultern nach oben und lässt sie wieder weit nach unten sinken. "Da warte ich jahrelang drauf, dass meine Mutter stirbt und dann das." Und kaum war sie schwanger, starb die Mutter. Sie lebte weiter mit G. der mit der Zeit eine unfassbare Eifersucht entwickelte und sie regelrecht in der Wohnung einsperrte. Er verbot ihr wegzugehen, er ging für sie einkaufen. Er ließ sie keine Sekunde aus den Augen und ihre Wünsche ignorierte er völlig. Mittlerweile hatte sie ihren Job aufgegeben und wieder saß sie nur zu Hause. "Ich wusste genau, was los war, aber ich konnte mich nicht dagegen wehren. Er war einfach zu stark." Bei den Worten schaue ich sie erstaunt an und frage, ob er sie auch noch geschlagen habe. "Aber hallo," und sie sagt das so, als wenn es etwas völlig natürliches sei "der hat mich quer durch die Wohnung geprügelt. Einmal hatter mir sogar eine Rippe gebrochen. Der hat sich genommen, was er wollte. Aber ich war ihm nicht scheißegal, das echt nicht. Der war einfach nur krankhaft eifersüchtig, der hatte immer Angst, ich würde ihm weglaufen, der hatte doch nie eine Frau und weil der sich nicht wehren konnte, hatter mich geschlagen." Ich kann es kaum fassen, was sie mir da mit ruhiger Stimme erzählt und sie ruft schnell bevor ich was sagen kann. "Jajaja ich weiß. Hätt ihn rauswerfen sollen, aber bis ich das bemerkt habe, war sich schon wieder schwanger. Mit dem Kleinen. Nicht unbedingt ein Kind der Liebe, wenn du weißt, was ich meine. Deswegen versuch ich den Kleinen um so mehr zu lieben."

Irgendwann wurde es ihr dann doch zuviel. Nach einer Prügelorgie holte sie die Polizei, die G. erstmal mitnahm, nachdem die Polizisten die blutenden Wunden in ihrem Gesicht gesehen hatten. "Die waren total nett, der eine hat mir direkt ein neues Schloss eingebaut, damit der nicht mehr rein kommt und mir seine Privatnummer gegeben, falls mal was sein würde, is ja Dorf hier." Ihr Glück war, dass sie noch das Geld des Onkels hatte. Das nahm sie dann vom Sparbuch um die Miete und ihr Leben zu finanzieren. Wegziehen wollte sie aber trotzdem nicht. "Ich hab echt geheult, als ich das Geld vom Sparbuch genommen habe und gesehen habe, wie es immer weniger wird. Das war doch mein Traumgeld, und jetzt ging es für so einen Scheiß wie Brot und Kinderschuhe drauf." Ich kann nicht verstehen, warum sie nicht aus dem Dorf weggezogen ist, wenigstens nach Bonn. Sie zuckt abermals mit den Schultern. "Ach Bonn. Ne. Weißte, ich wollte immer weit weg. Ganz weit weg von hier. Bonn ist doch um die Ecke, da kann ich gleich hier bleiben. Außerdem hat sich G. mittlerweile gefangen, der hat ne Neue und kümmert sich lieb um die Kinder. Und gibt mir ein bisschen Geld, so kann ich mein Geld sparen. Ich will ja immer noch weg, irgendwann. Wenn die Kinder groß sind, dann bin ich 50. Das ist doch kein Alter, da kann man doch noch mal neu anfangen."

Als ich später im Auto sitze, bin ich angewidert. Angewidert von ihr, dass sich so hängen lässt, angewidert vom Leben, dass es so was zulässt und angewidert von mir, dass ich auf ihr Angebot, noch zu ihr zu gehen erst eingegangen bin, um dann die Wohnung nach einer halben Stunde fluchtartig zu verlassen. Ich glaube, ich war neugierig darauf, wie sie sich wohl eingerichtet hatte, aber das war alles schlimm und dunkel und voller Bratkartoffelgeruch. An den Wände waren Bilder in Neonfarben, die schon in den 80ern aus der Mode waren, daneben ein Harlekin, drei Packungen dünne Zigaretten neben den Fernbedienungen auf dem Tisch und als sie ihre Hand mit den abgenagten Fingernägeln auf mein Bein legte, da stand ich auf und ging ohne sie noch einmal zu umarmen. Ein paar Jahre später hab ich dann noch mal angerufen, aber da ging die Telefonnummer schon nicht mehr und das machte mich sehr froh.

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