Einsichten
Ich bin jetzt 35 und habe somit gut die Hälfte meiner statistisch zugesicherten Lebenserwartung rum. Ob die andere Hälfte wirklich eine Hälfte sein wird, weiß nur die Alkohl- und Tabakindustrie. Zumindest fange ich die andere Hälfte am Sonntag an und da kann man schon mal nachdenken. Vor 15 Jahren war ich zwanzig, in 15 Jahren werde ich 50 sein. Und wenn die kommenden 15 Jahre so flugs vergehen, wie die letzten, muss ich mir glaube ich langssam mal was einfallen lassen. Also prinzipiell habe ich nichts dagegen, auch noch in 15 Jahren vor dem Rechner zu sitzen und schreiben. Das ist ok. Aber in 15 Jahren werde ich dann wohl dank der unergonomischen Stühle eher Rheumadecken gebrauchen können, als mit 20. Ein weiterer Kostenpunkt in meinem Leben, der frühzeitig berücksichtigt werden sollte.
Was war denn da in den letzten 15 Jahren?
Ein Krankenhausaufenthalt Beide Knie mit Kreuzbandabrissen erfreut. Fünf Beziehungen verschlissen, etliche Affären. Fünfmal die Bank gewechselt Zehn Autos gehabt Zwölf Kilo zugenommen Ca. 150 Bücher gelesen Ca. 200 Vollräusche Ca. 500 Filme gesehen Ca. 600 Interviews geführt Ca. 700 Kritiken verfasst Ca. 750 mal Sex gehabt Ca. 1000 Artikel geschrieben Ca. 2000 CDs gehört und (pi mal Daumen) 3000 12inch Ca. 10.000 Euro für Rechner und Internet ausgegeben Ca. 82.125 Zigaretten geraucht Folgende Jobs gehabt: Gärtner, Chauffeur, Nachtportier, Filmvorführer, Türsteher, Kellner, Vaselineschmelzer, Graphitklötzchenschleifer, Musik-Journalist, Film-Journalist, Yellow-Press-Journalist, Foto-Chef einer kleinen Agentur, Promoter, A&R, Redakteur, Content-Manager, Radioreporter, Pornofilmkritiker... achja, Student.
Die Abiparty fing mit 20 an und sie scheint noch immer nicht zu Ende sein. Und während andere Menschen ihre Karriere planten, sich vor den Traualtar stellten und ihre Wohnungseinrichtung langsam von IKEA auf die ersten Antiquitäten umrichteten, habe ich keine Einrichtung. Noch nicht mal IKEA. Allerdings will ich auch keine, das macht das Ganze leichter. Ich habe für diesen Entschluss 15 Jahre benötigt, was ganz schön viel ist, wie ich finde. Nur die Küche, die muss gut eingerichtet sein.
Na, fein. Wenn man das so zusammenzählt, klingt das nach ganz schön viel. Aber irgendwie kommt mir das wenig vor. Und ich habe das Gefühl, dass ich vielleicht mein Leben etwas stringenter angehen sollte. Vielleicht mal einen Plan machen. Hab ich nämlich nie gemacht. Vielleicht mal ein Projekt anleiern, etwas vornehmen. Das musste ich nie. Die Dinge kamen mit immer zugeflogen. Wenn ich mal wieder am Rande des finanziellen Abgrundes stand - schnipp - passierte etwas, ohne dass ich mich gross darum gekümmert hätte. Wenn ich mal drei Monate alleine war - zack - lernte ich jemanden kennen. Kann man sich dran gewöhnen. Ich will mich da nicht beschweren. Aber je älter ich werde, desto mehr habe ich das Gefühl, dem Leben etwas wieder geben zu müssen. Das mein Talent, mich schriftlich ausdrücken zu können, nicht nur eine Gabe ist, sondern dass man dieser Gabe gegenüber auch eine Verpflichtung hat. Und das man auch dem Glück, in dieser Welt und nicht in einem Slum in Brasilien aufgewachsen zu sein, etwas zurück geben muss. Da ich keine Kinder habe, wahrscheinlich auch keine will, auch weil jede Frau auch mit der ich das Thema mal angeschnitten hatte, mir mit den Worten "Bist Du irr, wenn einer das lassen sollte, dann Du" den Vogel gezeigt hat, habe ich schon mal beschlossen über Vereine wie "World Vison" o.ä. wenigstens einem Kind irgendwo auf der Welt was gutes anzutun.
Es kommt mir so vor, als habe ich die erste Hälfte meines Lebens nur genommen. Vielleicht kann ich die andere Hälfte dazu nutzen, auch mal was zu geben.