Weihnachten irgendwie, irgendwann

Weil ich vor ein paar Jahren an einem 24.12 nach wochenlanger Promotour Begleitung aus London nach Hamburg zurückkam, und am 27.12 schon wieder Termine hatte, fuhr ich nicht zu meinen Eltern. Ich war so unendlich müde, dass ich es nicht mehr in den Zug nach Bonn schaffen würde, das war mir klar. Ich weiß noch, es war ein Werktag, die Geschäfte hatten vielleicht noch eine halbe Stunde auf, als ich in Fuhlsbüttel landete. Ich hatte weder die Lust, noch die Kraft mich in einen Lebensmittelladen zu stürzen. "Eine Pasta hast Du ja immer im Haus" dachte ich noch, ignorierte den Plus Laden 50 Meter von meiner Wohnung entfernt und fiel bis Abends in einen tiefen Schlaf.

Gegen 19.00 Uhr wurde ich wach, weil das Telefon klingelte. Meine Eltern, meine Schwester. Sie hatten gerade die Bescherung hinter sich gebracht, meine Mutter wuselte in der Küche rum, wollte aber doch hören, wie es mir gehen würde. Ich lag in T-Shirt und Unterhose auf meinem Futon und es war bis auf das Knacken der Gasetagenheizung schrecklich still im Haus. "Mir geht es prächtig", log ich, denn ehrlich gesagt, ging es mir schlecht und dass der Job so weit mein Leben eingeengt hatte, dass ich nicht mal an Weihnachten nach Hause fahren konnte, frustrierte mich zutiefst. Ich hätte auch in London bleiben können. S., irgendeine der vielen Leiterinnen der verzweigten PR Abteilungen der Fabrik hatte mir das vorgeschlagen.

  • Komm, hatte sie am sehr späten Vorabend an der Hotelbar noch gesagt, während ich über meinen Terminplan lamentierte, komm, bleibt doch hier.

Und während sie das sagte machte die Musik eine Pause, und ich hörte ihre Strumpfhose knistern, als sie auf dem unbequemen Hocker ihre Beinstellung wechselte.

  • Ich ruf meine Assistentin an, die bucht den Flug einfach auf den 27.12, du hast doch eh Business. Du kannst bei mir in der WG schlafen, dann zeigen wir dir mal, was eine richtige englische Weihnacht ist.

Ein verlockendes Angebot. Für einen Moment leuchtete das Bild einer überheizten englischen Wohnung in mir, die Küche, das Fenster zum Hinterhof, in der Küche fünf Leute, die irgendwie alle in der WG mehr oder weniger wohnten, vielleicht eine Lichterkette über dem Regal mit den Gewürzen die ja eh nie einer benutzt, weil sie von einer veganen Vormieterin mal angeschleppt wurden. Dazu viel Bier, vielleicht Gin oder Wodka oder der Weihnachtspunsch, den S. mir vollmundig versprach. Das Bild war warm und schön und wurde noch wärmer, als ich S. ansah, denn es würde keine zwei ihrer versprochenen Weihnachtspunsche brauchen, und wir würden neben ihrem Plastikweihnachtsbaum vögeln. Ich würde ihrem Stöhnen lauschen, während nur durch eine Pappwand abgetrennt in der Küche die Engländer lärmend George Michael Imitationen zum Besten geben würden.

Ich lehnte das Angebot ab, nicht ohne zwei Stunden später, nach dem ich mit S. noch an der Bar geknutscht hatte, frustriert im Bett es mir selber zu machen. Ich hatte nicht den Mumm gehabt, sie mit aufs Zimmer zu nehmen, vielleicht auch, weil man wenigstens an Weihnachten mal ehrlich sein soll. Der rheinische Katholizismus steckte schon damals tiefer in mir, als ich es wahrhaben wollte. Oder es war ein Anflug von Ehrlichkeit gegenüber meiner damaligen Freundin, weil unsere Beziehung gerade mal einigermaßen lief, und sie versprochen hatte einen Tag früher von ihren Eltern zurück zu kommen, damit wir noch den zweiten Weihnachtsabend zum streiten, saufen und versöhnen haben würden.

Nachdem ich meine Eltern und meine Schwester belogen hatte, ging ich ging ich die Küche. Dort stand eine Reihe von Flaschen, alles irgendwelche PR Geschenke von Kollegen, Firmen, Managern, was weiß ich. Vor Weihnachten wurde das Büro der Fabrik zugeworfen mit diesen Geschenken. Wein, Sekt, Whiskey, Cognac, alles womit man sich laut beiliegender Karte einen "schönen, gemütlichen Abend nach all dem Weihnachtsstress" machen sollte. Die Verlockung, einfach eine Flasche zu greifen war groß, aber der Kater vom vorigen Abend war noch da und ein Rest von Stolz auch. Wollte man wirklich in der Unterhose vom Vortag, ungeduscht, mit wirren Haaren am 24.12 am Küchentisch sitzen und eine Flasche Alkohol entkorken? Nein. Also duschte ich erstmal, zog mir eine frische Unterhose an und entkorkte dann den Wein. Und warf einen Blick in meinen Vorratsschrank.

Aber egal wie lange ich schaute, es wurde nicht besser. Ich hatte Dosen Tomaten, ich hatte Thunfisch, ich hatte Kapern, ich hatte sogar noch eine halbwegs verwendbare Zwiebel, aber ich hatte weder Nudeln noch hatte ich als Alternative Reis oder irgendwas anderes. Während meine Eltern zeitgleich wie jedes Jahr üblich versuchten die Tonnen an Fleisch zu vertilgen, die meine Mutter wie jedes Jahr üblich zu viel gekauft hatte, konnte ich mir gerade mal eine Pasta Soße ohne Pasta machen. Also Bestelldienst.

  • Ja, ich hätte gerne einmal die 12a ohne Dressing, dass hab ich selber, und die Pasta mit Filetspitzen.... in Cognac, genau...142wasauchimmer... nein, sonst nix.... wie lang?..... 60 min??? Warum das denn?.... Ja, ich weiß das Weihnachten ist, ja und?.... ach, soviel Bestellungen....interessant...

Nach 70 quälenden Minuten, in denen ich mich durch das Weihnachtsprogramm gezappt hatte, klingte es an der Tür. Geliefert wurden lauwarme Filetspitzen, ein Salat ohne alles und eine Flasche Wein mit Korbgeflecht drum herum, die ich sicher nicht bestellt hatte.

  • Das habe ich nicht bestellt
  • Istn Geschenk wegen Weihnachten

Als ich dann so mit meinen sahnigen, lauwarmen Filetspitzen am Küchentisch saß schaute ich aus dem Fenstern auf das gegenüberliegende Haus. Vom Haus sah man wegen der Dunkelheit nicht viel, aber in den Fenster hingen diese ganzen beleuchteten Weihnachtsmänner, Christbäume, Sterne, Engel, Schneeflocken und Kometen dass man die Umrisse erkennen konnte. Und hinter den Figuren in den Fenstern tauchte hier und da das warme Licht eines Wohnzimmers auf, und für einen Moment dachte ich darüber nach, mein altes Fernglas zu holen, um wenigstens einen Blick auf Menschen werfen zu können, die nicht alleine waren.

Es war gar nicht so leicht gewesen, ein Taxi zu bekommen.

  • Ist ja Weihnachten, trompetete der Taxifunkmensch fröhlich, aber für sie hamwa auch noch eins.

Fürs P. war es noch zu früh. Das war unbedacht denn jetzt musste ich mich entscheiden. Zum vorglühen entweder eine einsamen Kneipe mit irgendeiner Mitfünfzigerin hinter der Theke und alleine einer 60er Jahre Jukebox lauschen oder eine lärmende Kneipe mit Weihnachtsmusik. Ich entschied mich für einen Laden weit hinter der Silbersackstrasse, ziemlich zertrümmerte Frau hinter der Theke, mit vielen Ketten um Hals, und Zigarette, na klar, und den Beatles im Hintergrund. Hallo Schätzchen, ein Bier, na klar, sonst noch was, ne danke, meld dich, mach ich. Dann ca. vier Mal noch: Noch eins, ja, ok sonst noch was?

  • Was heißt eigentlich 'Sonst noch was?'
  • Was meinst du?
  • Was willst du damit sagen? Sonst noch was?
  • Na, ob du einsam bist.
  • Bin ich nicht
  • Na, dann ist ja gut. Ich mein ja nur, wir haben hier guten Kontakt nach drüben, wenn du magst, kommt eine rüber.

Das wurde dann auch zu stressig, und mittlerweile hatte das P. geöffnet und man konnte davon ausgehen, dass dort jemand anwesend war. Also wankte ich nach einer knappen Flasche Wein zu Hause und vier Bier in der Kneipe die paar Meter rüber.

Ich erinnere mich nicht mehr an viel, außer an das Mitglied einer Berliner Kultband das ich dort traf und mit dem ich mehrere Runden Bier und Korn trank. Ich wunderte mich gar nicht, dass er da war, obwohl ich wusste, dass er Familie hatte. Ich war einfach nur froh darüber, dass ich überhaupt jemanden traf, den ich kannte. Er war schwer angeschlagen, und starrte die ganze Zeit zu einer kleinen Gruft-Frau rüber, eine von denen, die mit wippenden Knien an der Wand lehnte, die Hände auf dem Rücken, während der Saum des Samtkleidchens um die Bein mit den Netzstrümpfen schlackerte.

  • Geh doch rüber, die hat dich eh erkannt
  • Ich bin verheiratet
  • Aha
  • Meine Frau ist....

Und dann folgte dann die Geschichte seinen heiligen Abends, die ich nicht hören wollte, und gnädigerweise war es so laut, dass ich nichts hören musste, sondern nur aha, oder jaja, sagen musste, und ich war zwischendurch mindestens vier mal auf dem Klo, also da unten in der Hölle, wo man den Dealern schon fast aus Mitleid fast abgekauft hat, und jedes Mal wenn ich wieder nach oben kam, stand er da, und starrte weiter auf das Mädchen und beim letzten Mal war er plötzlich einfach weg, nach draußen und ich dachte, na, dann mach ich die halt an, und legte mir meine Rechtfertigung schön zurecht, von wegen, ich könnte ja jetzt bei S. im WG Bett in London liegen, mindestens genauso betrunken, und meiner Freundin ist es doch eh egal, die hat es warm und weich bei ihrer Familie mit vielen Lichtern und ebenso viel Liebe, die merkt das doch gar nicht, wenn ich mir hier jetzt auch ein bisschen klaue.

Und genau das dasselbe dachte ich ca. 30 min Minuten später, nachdem das wippende Mädchen verschwunden war ohne auf meine Anmache zu warten, und mich die Frau am Ende des Hans-Albers-Platz angesprochen hatte. Ja, ist doch egal, dachte ich, dann biste halt das erste Mal an Weihnachten bei einer Nutte, das ist wenigstens einprägsam. Rechts, links, zwei Gassen, dann eine schmale Stahltür, dahinter der Koberer am Tisch und viele Stufen nach oben, bis unters Dach, wo es unfassbar heiß war.

  • Hier ist es ja heiß
  • Da haste recht, ich bestell uns mal was zu trinken
  • Ich dachte mehr ans Fenster aufmachen
  • Ach, komm, ist doch Weihnachten

Ich hatte keine Ahnung, was das mit Weihnachten zu tun hatte, aber es war dann auch egal, denn ich wusste sowieso nicht, wie das jetzt weitergehen würde.

  • Wie geht denn das jetzt hier weiter?
  • Kommt darauf an, was Du willst
  • pfffff....ja.... was soll ich wohl wollen
  • Entspann Dich Süßer, zieh dich doch schon mal aus, ich hol mal die Getränke

Nackt war die Temperatur angenehm. Aha, dachte ich vernebelt wie ich war, deswegen also, und starrte auf die rotblickende Weihnachtdekoration im Fenster. Dann kam sie wieder, sagte, dass ich ja wenigstens was zwischen den Beinen hätte, was sich lohnt, da sei für sie doch auch Weihnachten und sie machte sich mal die Mühe den einstudierten Satz einigermaßen ehrlich rüberzubringen. Ich konnte nicht so recht lachen und plötzlich wollte ich eigentlich nur noch nach Hause. Alles war falsch. Die Arbeit, die mir mein Weihnachten genommen hatte, die Idee, das Haus zu verlassen, der viele Alkohol, das dämliche Gespräch im P., die Idee mich von der dicktittigen Tante im Skianzug mit den Worten, Kohle klären wir später, du bist süß, besoffen abschleppen zu lassen. Ich wollte jetzt in diesem Moment zufrieden, voll gefressen und glücklich im unbequemen Gästebett meiner Eltern liegen. Hier in diesem Bett wusste ich noch nicht mal, ob ich einen hoch bekommen würde. Sie kam mit zwei zimmerwarmen Cola wieder, zog sich aus schnell aus und legte sich neben mich.

  • Ich weiß nicht ob ich einen hochbekomme, ich hab zuviel getrunken
  • Dafür bin ich ja da. Aber bitte nicht an die Titten fassen, die Narben sind frisch.

Sprachs und verschwand nach unten, während ich tatsächlich wie bei einer schlechte Kamerafahrt in einem schlechten Film meinen Blick wieder an die rotblickenden Weihnachtslichter heftete und mir überlegte, dass 150 Mark für einen Blowjob ziemlich Geld waren, dafür, dass man die Titten nicht mal anfassen durfte.

  • Und wo ist meine Uhr?

Fragte ich mich 20 Minuten später. Die Uhr war wichtig. Die Sonderausgabe eines Chronometers von Calvin Klein, die ich von S. aus London wegen eines Jobs bekommen hatte. Sonderauflage, nur zu Promo Zwecken einer ehemaligen Kellnerin aus New York, die es geschafft hatte, den richtigen Tisch und dort den wichtigsten Mann zu bedienen. Ganz selten, blabla. Die Uhr hatte ich wohl im Suff abgelegt, so wie ich das immer mache, wenn ich mich ins Bett lege. Als ich wieder alleine draußen stand und zu Burger King wankte, um mir wenigstens mit einem Whopper Wärme in den Bauch zaubern, hatte ich nicht Mut, noch mal rein zu gehen. Ich hatte nicht mal den Mut einen Moment vor der Stahltür des Puffs stehen zu bleiben, weil ich selbst in meinem Suff wusste, dass da Kameras hingen. Also ging ich um die Ecke und überlegte ein bisschen um dann zu Pommes und Burger weiter zu wanken. Die Uhr war weg, aber das war nur ein Problem. Das zweite Problem war die Wärme. Das ist nämlich das blöde, am bezahlten Sex: am Ende steht man doch wieder alleine draußen in der Kälte. Selbst wenn man soviel Geld hat, dass man sich jemanden nach Hause bestellen kann, liegt man nachher alleine im Bett, spürt, wie die Wärme sich aus den Laken grußlos verabschiedet und am Ende alles wieder so ist, wie ein paar Geldscheine vorher. Man hat sich nur ein Zeitloch erkauft, einen Moment, der nicht mal bis zum nächsten Frühstück reicht. Man kann nicht mal jemanden widerlich finden, oder dafür hassen, dass man selbst mal wieder so schlecht war. Man ist nur genauso alleine wie vorher.

Der Taxifahrer war gnädig zu mir, morgens um vier oder fünf, was weiß ich. Ich ließ mich auf die Rückbank fallen und sagte Sillemstraße und der Wagen floss wie langer Strich den bekannten Weg einfach entlang, bis er vor meiner Tür stand.

  • Frohe Weihnachten
  • Das nächste mal. Der Rest ist für sie.

Das war die erste und die letzte Weihnacht, die ich alleine verbracht habe. Und jedes Mal, wenn ich bei meinen Eltern bin, oder mit Freunden zusammen feiere, denke ich an diesen Heilig Abend vor vielen Jahren. Die Uhr hab ich nie wieder bekommen. Als ich irgendwann bei Ebay eine Uhr aus der Serie sah, hab ich kurz überlegt, ob ich mitbieten soll. Ich hab gelassen, weil meine Erinnerungen an den Abend reichen. Die müssen nicht aufgefrischt werden.

Ich wünsche allen ein frohes Weihnachtsfest.