Das Seminar I

(Für Mek. Damit er das wunderschöne Mädchen am Ende nicht noch entführt...)

"Duuuhuuu," leierte die Frau neben mir im Bett, "wir müssen mal was machen." Das ist ungefähr die drittschlimmste Eröffnung, die einem eine Frau machen kann. Es folgt auf der nach oben offenen "Du hast auf jeden Fall verloren Skala, egal was Du sagst" gleich nach der Frage "Steht mir das Kleid" und der langwierige Diskussionen eröffnenden Feststellung "Wir müssen reden". So gleich drehte sich das Spekulationskarusell in meinem Kopf. Zugegeben sehr träge, aber auch Restalkohol und schwere mittägliche Schwüle vermochten seinen Schwung nicht zu bremsen. Was konnte das nur bedeuten, dieses "Was machen". Bedeutete es eine ungeschickte Einleitung in Richtung "Wir müssen reden"? Oder "Mir ist langweilig, lass uns was unternehmen"? Oder gar: "Wir müssen mal unsere Beziehung definieren?" Das wäre wirklich anstrengend. Nicht nur wegen der Diskussionseindämmenden Hitze, sondern auch weil ich keine Lust hatte, eine solche Frage zu beantworten. Ich kannte Helen gerade mal ein paar Wochen, und ob wir uns schon im schleichenden Übergang von einer Affäre zu einer Beziehung befanden, wollte ich wirklich nicht beantworten. Zumal es die "3er Regel" gab: 3 Tage, 3 Wochen, 3 Monate. Drei Tage war der typische One Night Stand. Man lernt jemanden kennen, meist angeheitert, verbringt eine Nacht zusammen, stellt man nächsten Tag fest, dass man sich irgendwie geirrt hat und braucht einen weiteren Tag um den Mut aufzubringen zum Telefon zu greifen, um die Sache klar zu stellen. Gleiche Regel, nur mit mehr Abstand und Wohlwollen für die drei Wochen und die drei Monatsregel. Wenn man nach drei Monaten immer noch nicht darüber nachdenkt, ob man das Richtige tut, schlittert man in eine Beziehung. Es gibt bestimmt auch eine drei Jahresregel, die dann vielleicht sogar in einer Hochzeit endet, aber so lange hatte ich es noch nie ausgehalten. Oder man es mit mir.

An diesem schwülen Sonntagmittag in Köln fehlte mir aber jegliche Energie auch nur eine der sich an meinem geistigen Horizont abzeichnenden Fragen zu beantworten. Lieber wollte ich weiterhin halbbedeckt unter dem dünnen Laken liegen, die Augen geschlossen und darauf wartend, dass ein leichter Windhauch seinen Weg durch die weit geöffneten Fenster fand und für einen Moment angenehme Kühle verbreiten würde. Während ich überlegte, was sie wohl damit meinen könnte, merkte ein anderer Teil meines Hirns an, dass die entstandene Pause nach ihrer Frage mittlerweile ziemlich lang geworden war. Ich überlegte, welche Antwort ihre Frage am besten befriedigen würde und gleichzeitig die sicher folgende Diskussion auf ein Minimum zu beschränken. Ich hatte die Wahl zwischen: "Was meinst Du mit "Was machen" genau?", "Ja", "Hmpf", "Später" und "Wie jetzt?". Ich entschied mich für die letzte Variante und bekam als Antwort:

  • "Na, was machen wegen Sex."
  • "Wie, wegen Sex?"
  • „Ich meine so allgemein. Orgasmus und so."

Allgemein? In jenem Moment lag meine Einstellung zu dem Thema ganz eindeutig in der These, dass es eine Unverschämtheit ist, dass es immer nur heißt, dass Männer immer zu früh kommen. Es ist eine allgemein, weltweit akzeptierte Tatsache, dass zu früh kommen immer noch besser ist, als wenn man sich verspätet. Warum also nicht die Frauen mal zu ein bisschen Eile ermahnen, und wenn sie dann immer noch zu spät kommen, lernen Sie halt ihre Lektion. "Ich war beim Bund, da wurde mir Pünktlichkeit eingehämmert, musste Dich beim nächsten Mal eben beeilen" murmelte ich und sie lachte und meinte, das sei nicht das Thema. Es ginge vielmehr um die Art des Sexes.

Ich schaute sie fragend an nur um die Antwort zu erhalten "Ich möchte gern mit Dir ein Tantra-Seminar besuchen". "Tantra?" frug ich erschrocken und sie sagte: "Ja ich will meinen Körper und den meines Partner besser kennen lernen. Außerdem müssen wir ja nicht immer ficken wie die Orang Utans." Von Tantra hatte ich nur am Rande gehört. Irgendwas indisches, irgendwas mit massieren und dann ficken. Das klang an diesem heißen Tag sehr verführerisch und gegen eine nette, lange Massage mit viel Öl hätte ich jetzt nicht einzuwenden. Also sagte ich "Klar, machen wir, aber Du kümmerst Dich drum." Erleichtert über ihren schnellen Triumph stand sie auf, sprang aus dem Bett, griff in die Untiefen ihrer Handtasche und zauberte ein völlig zerknittertes Heftchen heraus. "Indian Love - das ganzheitliche Tantrainstitut" stand vorne drauf und drunter waren mehrere in einander verknotete Leiber zu sehen. "Gruppensex" dachte ich, auch das noch, blätterte schnell zu den Preisen, die angenehm niedrig waren. Ein ganzes Wochenende, inkl. Schlafplatz, vegetarischer Verpflegung und Tantraschule für damals sensationell günstige 120 Mark.

"Raucher bitten wir ihrem Laster auf dem Balkon zu frönen." Dies sagte mit ebenso freundlicher wie energischer Stimme Hendrik, seines Zeichens der männliche Teil derjenigen, die uns Westeuropäern am Wochenende beweisen wollten, das wir unser Sexleben bisher völlig falsch aufgezogen hatten. "Das fängt ja gut an," dachte ich und schaute mich in der alten Villa in der das Tantraseminar stattfinden sollte, erstmal um. Es ging durch einen hellen Flur in einen großen Saal, der mit Isomatten ausgelegt war, auf denen man Platz nehmen sollte. Vorne, auf einer Art leicht erhöhten Bühne lagen zwei weitere Matten, wohl für die Seminarleiter. Dahinter ein Wandgemälde, vielleicht sechs mal vier Meter, offenbar eine Eigenproduktion. Es zeigte ein paar Inder in verschiedenen Stellungen auf einer großen Wiese. Im Hintergrund der Taj Mahal, mit einer Art Heiligenschein hinter dem die Sonne unter ging. Offenbar hatte der Maler eine Kombination aus Boschs "Garten der Lüste" und indischer Folklore herstellen wollen, was aber damit geendete hatte, dass das Bild am Ende aussah wie eine dieser Malereien, die man gerne auf den Seitenwänden von Autoscootern findet. Im hinteren Bereich des Erdgeschosses, befanden sich die privaten Räume der Ausbilder, oben gab es ein paar Schlafräume, in denen wieder Isomatten ausgerollt waren. Hendrik wies uns einen Raum zu, und die Hoffnung, das Helen und ich hier alleine nächtigen würden, zerstob schnell, als Marianne und Andreas zu uns stießen.

Beide sahen sehr ungesund aus. Für ihr Alter, sie waren vielleicht Mitte 20, hatten sie sehr grobe Haut und waren regelrecht ausgemergelt. Bei ihr lagen die Augen tief in den Höhlen, bei ihm war der Blick leicht verschleiert. Das war aber eh egal, weil er einen sowieso nie anschaute. Er blickte gerne nach unten, saß dabei ruhig in der Ecke und puhlte an seinen neurodermitschen Händen rum. Marianne hatte eindeutig das Sagen und ertappte sie ihn beim rumpuhlen fauchte sie nur, "Lass das" was dazu führte, dass Andreas seinen Kopf noch ganzes Stück weiter nach unten neigte. Marianne war es auch, die gleich mal was klar stellte. Sie schaute mich eindringlich an und zischte mit der Stimme einer bösen Hexe: "Das ist ja wohl klar, dass hier im sitzen gepinkelt wird. Ich hab keine Lust mir was zu holen." Hinter mir lachte Helen die sich gerade umzog und dafür auch gleich eins mitbekam, als Marianne bemerkte, was für Unterwäsche Helen anhatte. Mit säuerlicher Mine begutachtete sie das rote H&M Ensemble und meinte "Davon bekommt man Vagina-Krebs". Helen schaute sie nur erstaunt an. "Wie, Krebs? Wovon?" Marianne zeigte mit dem Finger in die ungefähre Richtung ihrer roten Unterhose. "Davon. Das kommt davon, wenn man in billigen Ausbeuter Discounter einkauft. Die Farbe ist krebserregend und dadurch, dass man diese Farben immer einer warmen, feuchten Umgebung aussetzt, lösen sich die Krebsauslösenden Stoffe und infizieren die Vagina." Helen machte große Augen, ich sagte: "Wir kaufen nur im Bioladen" und ging lieber raus.

Unten hatten sich schon etliche Teilnehmer des Seminars versammelt. Ich kann mich nicht mehr an alle erinnern, wohl aber an Olga und Hans-Peter. Olga, eine dünne, guttrainierte Frau mit einem leichten polnischen Akzent, hatte wohl gerade die 40 überschritten, Hans-Peter, deutlich jenseits der 50, schob einen gewaltigen Bierbauch vor sich her und sah sehr, sehr unglücklich aus. Ich hörte gerade noch, wie er seine Frau darum bat, ob sie nicht wenigstens in einen Hotel gehen könnten, wegen seinem Rücken, und auf dem Boden schlafen, das habe er seit seiner Jugend nicht mehr gemacht. Olga, wohl leicht erschrocken über die Tatsache, dass Hendrik ihr gerade mitgeteilt hatte, dass es nur gemeinschaftliche Schlafplätze gibt, willigte gern ein und die beiden verschwanden erstmal wieder. Auf dem Raucherbalkon traf ich dann noch Matthias, der missmutig an seiner Zigarette zog. Ohne dass ich auch nur Chance hatte mich vorzustellen, legte er in einem schweren Dialekt los, der verriet, dass er irgendwo aus der Eifel kommen musste. "Son Scheiß, ey. Nich rauchen, ey. Boah. Warum hab isch dat nur zujesacht. Dat sin doch alles jecke he. Dat is nur weil meine Freundin su komische Sachen liest. De janze Quatsch." murmelte er, zerstörte seine Marlboro in einem Tonaschenbecher und stampfte wieder rein.

Zurück auf dem Zimmer fand ich Helen umgezogen und Andreas leise vor sich hinpuhlend in einer Ecke des Zimmers. Marianne war im Bad, und bevor sie mir Vorhaltungen über meine Markenunterwäsche und die Ausbeutung der dritten Welt machen konnte, war ich schon umgezogen. Gerade rechtzeitig, denn unten ertönte ein Gong, was wohl bedeuten sollte, dass es bald losgehen würde. Wir gingen also runter und betraten den großen Saal.

Nach und nach trudelten die Paare ein. Die meisten so um die 30, ich war damals 26, Helen 24 und wir waren mit Marianne und Andreas die jüngsten im Raum. Als letzten kamen Olga und Hans-Peter, letzterer puterrot im Gesicht und mit einem Ballonseidenen Adidas Trainingsanzug in hellblau bekleidet. Ansonsten hatten die meisten irgendeine bequeme Hose und ein T-Shirt an, außer Andreas, der, bekleidet mit einer kurzen Sporthose wie man sie in den 70er Jahren zum Schulsport trug, zeigte, dass auch seine Füße unter Neurodermitis litten. Als alle versammelt waren ertönte noch ein Gong und Hendrik betrat den Raum. Er setzte sich im Lotussitz auf die kleine Bühne und schwieg so lange, bis alle gemurmelten Gespräche verstummt waren. Mit leiser Stimme begrüßte er alle zum "ganzheitlichen Tantra Seminar" in der Villa "India" wies auf die Hausregeln hin. So sei das Rauchen nur und ausschließlich auf dem Balkon erlaubt. Nicht in der Küche und schon gar nicht im Garten zwischen den alten Bäumen, weil man diese nicht unnötig belasten wollen würde. Desweiteren mögen die Herren bitte im sitzen urinieren, und die Damen sollten, bei vorhandener monatlicher Unpässlichkeit, auf gar keinen Fall das Seminar abbrechen, weil diese die hier zu besprechenden Chakren und Zonen empfänglicher machen würden, dem Seminar sozusagen eine intensivere Note verschaffen würden. Olga zog scharf Luft ein. Nach dem er jedem die Hausordnung noch einmal eingeschärft hatte, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass schwere Verstöße gegen diese, einen Ausschluss vom Seminar zu Folge haben könnte, ohne dass man sein Geld wiederbekommen würde, richtete er seinen dürren Körper zurecht und sagte mit feierlicher Stimme: "Wir freuen uns jetzt alle auf "Saraswati ".

Die Tür ging auf, und eine Frau um die 40 betrat den Raum. Sie hatte einen bunten Sari um, die Haare streng nach hinten, zusammengehalten von einem Tuch mit Batikmuster. Sie sah wirklich ganz famos und vor allem sehr gesund aus, schritt leichtfüßig durch den Raum und ließ sich neben Hendrik nieder. Der sagte "Saraswati möchte, dass wir jetzt erstmal gemeinsam ein Gebet sprechen. Jeder kann in der Religion beten, die er für sich ausgewählt und wenn es jemanden gibt, der sich nicht einer Religion zugehörig fühlt, kann er einfach leise darum bitten, dass wir alle zusammen ein schönes Seminar haben werden." Ich tat wie von mir verlangt, allerdings verbunden mit der wirklich ernsten Bitte, dass mich irgendein dafür zuständiger Gott während des gesamten Seminars vor spontanen und nicht stoppbaren Lachanfällen bitte verschonen möge. Es hat mich niemand erhört.

Und irgendwann schreibe ich die Geschichte auch mal fertig, denn das Wochenende hatte noch einige Überraschungen.