Das Elend der Maden

Um kurz nach fünf morgens stehe ich auf der Balustrade des Clubs. Der ganze Abend war schon merkwürdig. Ich hatte ein "Sonntag Abend" auf meinem Handy und das versetzte mich in eine gütliche Stimmung. So gütlich, dass ich anfing auf Joy Division, Kim Wilde und Nena zu tanzen. War egal. Nach der Party waren wir nicht tot zu kriegen, also in den Club, wo man um halb fünf locker reinkam. Die einzige atembare Luft gab es auf der Balustrade. Der Typ neben mir brüllte mir ins Ohr, dass das schon was von Sodom und Gomorrah hätte. Ich wußte nicht was er meint, ich bin erst fünf Minuten da und meine Augen schneiden nur sehr langsam kleine Mosaikstücke aus der Dunkelheit. Er macht eine Kopfbewegung nach hinten, wo ich ein Paar sehe, sie den Kopf zwischen seinen Beinen, die üblichen Bewegungen. Der Typ zuckt mit den Schultern, ich auch und er brüllt weiter in mein Ohr. Ich habe keine Ahnung was er meint, oder was er mir erzählt, also nicke ich hier und da und schaue runter auf den riesigen, halbnackten zuckenden Leib auf der Tanzfläche. Das mit der Balustrade war mir nicht klar. Ich war ja noch nicht hier, nur mal in der alten Location. Meine Begleiter lachen mich später aus, als ich ihnen erzähle, wie ich versucht habe, da wieder runter zu kommen. Denn irgendwann hörte der Typ auf mir apokalyptisches ins Ohr zu brüllen, und ich wollte gehen, aber mittlerweile hatte sich eine Gruppe um das Paar gebildet, die alle miteinander beschäftigt waren. Ich hätte über die sich offenbar abmühende Frau steigen, mich vorbei an drei fickenden Schwulen quetschen müssen und ob ich hinter dem Typ herpaßt hätte, der gerade versuchte einer Frau von hinten den Slip runter zu ziehen, wußte ich nicht. Ich merke dass sie fertig sind, als ich den Hinterkopf des kaum zwanzigjährigen Mädels plötzlich neben mit stehen sehe. Sie dreht sich um, das Gesicht völlig leer und mechanisch zieht sie sich den BH wieder hoch. Zeit zu gehen. Dringend. Ich suche meine Begleiter. Um mich herum, an den Rändern des Lichts kaukophones Ficken, und selbst als ich die Wiederholung des Golfturniers in Schottland auf Premiere drei Stunden später bei mir sehe, klinken sich die Bilder des ruckelnden Gewirrs aus seelenlosen Armen, Schwänzen, Beinen und Titten immer wieder ein. Ich habe das Gefühl, in einen Topf voller Maden gestarrt zu haben

Als ich wach werde, sind die Maden immer noch im Kopf, aber das Bild ist anders geworden. Nicht mehr so verstörend. Es scheint wie ein Bild aus der Tagesschau zu sein. Weit weg, mich nicht betreffend. Sollen Sie doch. Stattdessen ist ihr Gesicht vor meinen Augen, ihr Lachen auch, und der Blick, den sie ab und zu hat, mit dem sie "Schade" sagt. Das Gewürm verschwindet endlich, die Sehnsucht nach dem eingefrorenem Moment ist da und zersplittert als die Mailbox piept. Das ist ein bißchen viel, zweimal innerhalb nur einer Woche. Erst stolpert man völlig überraschend über ein vergessenes Töpfchen Liebe, dessen Mindesthalbarkeitsdatum vor langer Zeit abgelaufen schien. Und dann bemerkt man innerhalb eines 5sekündigen Anrufes, dass man halt in solchen Momenten nur der Beifahrer auf dem Rücksitz sein kann, das es jetzt egal ist, wieviel man geben könnte, wollte, würde, weil es unmöglich ist und das man stattdessen auch seine Haustür umarmen kann. Ich höre die Mailbox noch mal ab. Sie klingt unendlich traurig, und sie hat auch guten Grund dazu. Ich bin es auch, teils weil ich mit ihr fühle, aber aus anderen Gründen. Das Elend der dritten Person. Das Elend wird nicht eben kleiner, als ich den Wein zurück stelle, die Gläser wegräume und den Mozzarella zurück in den Kühlschrank schiebe. Hunger habe ich jetzt eh keinen mehr.