Anti-Anti-Twitter-Thesen
Ich glaube, dass jede neue Erfindung im Netz oder jede neue Jugendbewegung in dem Moment sofort zum Tode verurteilt ist, wenn Soziologen und andere Wissenschaftler Erklärungsmodelle basteln um Menschen, die nicht verstehen, was da gerade passiert, zu erklären, was für Menschen dahinter stecken und welche Beweggründe die wiederum haben.
Klaus Eck ist da eigentlich eine Ausnahme, denn er ist in Sachen PR ein (meist) angenehm zurück haltender Zeitgenosse, der Technologien früh entdeckt und ausprobiert. Die Tage hat er 18 Thesen gegen Twitter veröffentlicht. Aus PR'ler Sicht versteht sich, aber auch aus Sicht eines Users. Er selber mag Twitter und nutzt es gerne, hat aber mal ein paar Anti-Thesen aufgegriffen. Ich hab die Gelegenheit auch mal dazu genutzt, aufzuschreiben, was mich an Twitter fasziniert und warum ich es nutze.
1. Twittern kostet viel Arbeitszeit Es kostet nicht mehr Zeit als Chatten, skypen etc. Im Gegenteil. Seit dem ich Twhirl als Client einsetze, kostet es mich weniger Zeit, denn ich hab Chats dank Twitter fast komplett abgeschafft. Tagsüber läuft das Ding sowieso im Hintergrund, wenn ich arbeite reagiere ich fast ausschließlich auf @Messages, bzw. direkten, also privaten Anfragen.
2. Twittern verhindert jede Konzentration: Jein. Wie oben erwähnt, ist eine Frage, wie man es anwendet. Jede Mail, jeder neue RSS-Feed nimmt mir meine Konzentration, wenn ich es will. Es ist meine Entscheidung, ob ich mich von den Banalitäten ablenken lassen möchte.
3. Twittern schadet der Online-Reputaton: Klaus schreibt:
Wer über alles und nichts twittert, verliert sich im digitalen Nirwana und lässt sich kaum noch für seine Follower / Leser einordnen. Der eigenen Online-Reputation ist das oftmals wenig förderlich.Kann ich nicht nachvollziehen. Eine "Online-Reputation" entwickelt sich auch durch die Banalitäten, die von mir gebe. Da funktioniert bei Twitter nicht anders, als ein Blog. Ich kann natürlich mein Blog/Twitter Account so aufbauen, dass ich ausschließlich über ein bestimmtes Thema schreibe und private Dinge rauslasse. Aber es hat sich in den meisten Fällen gezeigt, dass die Glaubwürdigkeit eines Autors auch damit steigt, wenn er ab und an einen Blick ins Private gewährt. Das bedeutet nicht, dass man jeden Mist twittern muss (Geh einkaufen, Geh raus, Geh mit dem Hund), aber auch nicht, dass das Weglassen dieser Dinge automatisch zum Schutz der Online-Reputation führt.
4. Twittern ist gleich Information Overload: Ja, Twitter erhöht den Informationsfluss erheblich. Aber hier gilt, wie bei Blogs oder klassischen Nachrichtenseiten - ich muss mir die Kompetenz aneignen, genau die Dinge aus dem Informationsstrom von Twitter rauszufischen, die mich interessieren. Wieder die Analogie zu RSS-Feeds, denn auch bei Twitter kann ich entscheiden, wem ich "followe" und wem nicht.
5. Twitterer werden süchtig: Man wird nach Twitter genauso süchtig, wie nach Blogs oder Seiten wie Flickr. Es gibt einen Aufmerksamkeitspeak, der sich irgendwann einpegelt, spätestens dann, wenn was Neues kommt.
6. Twitter haben keine Privatsphäre mehr: Nein. Ich entscheide, was ich bei Twitter rauslasse und was nicht. Die Technologie spiel dabei keine Rolle, ob ich es per Twitter, 12seconds. seesmic oder mit einem guten, alten Blog mache. Nicht die Technologie klaut mir die Privatsphäre, sondern meine Art der Nutzung.
7. Twitterer kennen keine Persönlichkeitsrechte Warum sollten diese Rechte bei Twitter aufhören? Warum sollte ich die Rechte anderer nicht mehr achten, nur weil ich einen Microbloggingsdienst nutze? Wie bei allen Seiten im Netz, wo ich andere Menschen treffe, gilt das "real life" Prinzip: Ich behandele online jeden so, wie im normalen Leben.
8. Twitter orientieren sich nicht am Profit Gut. Mag eine Anti-These für PR-Menschen sein. Ein Grund mehr, der für Twitter spricht.
9. Es gibt keine klaren Zielgruppen: Gibt es die im Moment im Netz überhaupt noch? Die totale Fragmentierung der Zielgruppen, die komplette Auflösung bekannter Modelle hat auch etwas damit zu tun, dass die Leute, je mehr sie sich mit dem Netz beschäftigen, komplizierter werden. Jedenfalls aus Sicht eines Werbetreibenden. Interessen lassen sich nicht mehr genau definieren. Selbst sehr spezielle Blogs haben eine gemischte Leserschaft. Was man bei Twitter, zumindest noch im Moment bekommt, sind "early adopters", aus deren Verhalten sich zumindest Trends ablesen lassen können. Und es geht ja meist um die Frage: Was ist das nächste Ding?
10. Twittern ist Chaos: Twitter ist die Visualisierung des täglichen Kommunikationschaos. Ich kann alles und jeden abonnieren, ich muss es aber nicht. Nehme ich zum Beispiel nur "breaking news" Dienste wie BreakingNews etc. sieht die Sache anders aus. Es ist also auch hier wieder der Punkt, dass ich mir die Medienkompetenz erarbeiten muss, damit ich einen Dienst wie Twitter nutzen kann.
11. Twitter-PR funktioniert noch nicht wirklich Da hat er mal Recht. Jedenfalls teilweise. Wie bei allen neuen Webdiensten, die zunächst einmal tief in den privaten Bereich reinreichen können, wird PR bei Twitter nicht gerne gesehen. Nicht mal Eigen-PR bei neuen Weblogeinträgen. Jemand, der seinen Twitteraccount nur dazu nutzt, seine neuen Einträge anzukündigen, fliegt aus meiner Abo-Liste raus. Das heißt aber nicht, dass PR nicht doch funktioniert, denn Twittereinträge sind, ähnlich wie Blogeinträge, eine Selbstdarstellung, die vor allem auf lange Sicht funktioniert. Kurzfristige Effekte lassen sich nicht erzielen, aber langfristig ist die Eigen-PR in Twitter nicht zu unterschätzen, weil es eben auch wichtig sein kann, in diesem System vertreten zu sein um überhaupt wahrgenommen werden zu können.
12. Unternehmen wollen keine Transparenz: Da bin ich komplett seiner Meinung. Trotz der vielen Jahre, die Blogs nun schon existieren, haben die wenigsten Unternehmen verstanden, wie man mit dem Netz umgeht. Für die meisten ist es eine Art Container oder Schaukasten, in denen man ein paar Inhalte ausstellt. Die meisten Unternehmen sind allerhöchstens im Web 1.0 angekommen, und verstehen nicht, warum ihnen mache Dinge um die Ohren fliegen.
13. Twitterer werden zu persönlich Wie schon erwähnt - das ist eine Frage, wie ich damit umgehe. Klaus weist daraufhin, dass die "Work-Life-Balance" verloren geht. Ich bin der Meinung, dass die zumindest bei den meisten Freiberuflern, die im Netz arbeiten, sowieso seit Jahren nicht mehr existent ist. Anders ist das natürlich bei Angestellten, die innerhalb ihrer konservativen Firma nicht gerade ihr Privatleben offen legen wollen. Aber, auch hier wiederhole ich mich gerne, es ist meine Entscheidung, was ich schreibe.
14. Twitterer sind keine Freunde: Blogger auch nicht. Chatter auch nicht. Diese Form der Medienkompetenz sollte man nach 15 Jahren Internet eigentlich so langsam erkannt haben. Nur weil ich den gleichen Fußballverein mag und bestimmte Menschen immer wieder im Stadion treffe, muss ich denen ja nicht unbedingt von meinen letzten sexuellen Abenteuern erzählen.
15. Ein Twitter-Burnout kommt schnell: Neue Dienste nutzen sich ab. Blogs haben an Schwung verloren, weil die User neue Sachen entdeckt haben. Auf Flickr ist nur noch die Hälfte los und Twitter wird es irgendwann ähnlich gehen. Persönliche Burnouts durch Twitter? Nochmal: es ist immer die Frage, wie ich mit diesen Dingen umgehe. Ich muss ja auch nicht jeden Tag drei Flaschen Wein trinken, nur weil er mir schmeckt. Bei Alkohol haben die meisten gelernt, wie man damit umgeht, das kann man auch mit Netzdiensten.
16. Twitter-Marketing funktioniert nicht: Gott sei Dank.
17. Twitter selbst ist unzuverlässig: Stimmt seit dem Upgrade der Server im Sommer nur noch teilweise.
18. Twitter hat nichts mit dem Ernst des Lebens zu tun: Isoliert betrachtet haben Blogs, Flickr usw, das auch nicht. Und doch haben sie genauso viel damit zu tun, weil sie letztlich in der Gesamtheit ein Spiegelbild der Gesellschaft darstellen, wenn ich das jetzt mal wie ein Print-Journalist formulieren möchte.
Wie gesagt - Klaus Eck sieht diese Dinge aus dem Blick eines PR-Menschen, der sich fragt, welchen Sinn eine Applikation wie Twitter haben kann. Und ja, er hat Recht. Kurzfristig eingesetzt hat Twitter keinen Sinn. Das gilt aber für alle "social" Dienste, die im Moment genutzt werden. Blogs funktionieren nach einem halben Jahr, wenn sie konsequent geschrieben werden, ähnlich lange brauche ich, wenn ich andere social networks nutze. Das ist bei Twitter nicht anders. Einfach reinkommen, laut poltern und hoffen, dass viele Leute darauf anspringen, ist ein Fehler, der interessanterweise immer noch vielen Anbietern, PR'lern und anderen Menschen aus dem Gebiet gemacht wird.