Ich habe immer noch eine dicke Halsschlagader in Sachen Abmahnungen und Meinungsfreiheit. Die Sache mit Stefan Niggemeier ist da nur der Tropfen gewesen, der das persönliche Fass zum überlaufen gebracht hat. Ich frage mich stündlich, was in diesem Land eigentlich gerade passiert.
Eine ganz gute Übersicht über den rechtlichen Stand in Sachen "Kommentarhaftung" liefert Thomas Schwenke (Link via Robert). Sein sehr lesenswerter Artikel fasst gut und verständlich zusammen, wie die Lage zur Zeit ist. Dabei kommt er zu dem Schluss:
Wollt Ihr so richtig und völlig sicher sein, dann stellt Eure Kommentare auf “Moderation” und löscht jeden Kommentar, der auch nur ein bisschen nach Rechtsverletzung aussieht.
Das mag sicher stimmen, finde ich aber nicht akzeptabel, zumal es mit dieser Software schlichtweg nicht umsetzbar ist. Das ich bei Antville (und anderen Plattformen) nicht die Möglichkeit habe, Kommentare vor ihrer Veröffentlichung zu prüfen, zeigt deutlich, in welche Richtung sich zumindest in Deutschland die Rechtssprechung bewegt hat. Als man Antville 2001 auf den Markt brachte, dachte man nicht an eine Moderationsmöglichkeit, weil der Gedanke, dass man Meinungen vor ihrer Veröffentlichung überprüfen soll, ziemlich abwegig war. Eine Löschfunktion reichte völlig aus. Würde ich mich an Rat halten, müsste ich entweder die Kommentare abschalten, oder das Blog mit einem Passwort versehen, so dass nur ein geschlossener Nutzerkreis Zugang hat. Bin ich ein Tag weg, müsste ich die Kommentarfunktion aller Einträge der letzten fünf Jahre schließen, oder ein Schloß vors Blog klemmen.
Schwenk weist daraufhin, dass es sehr unterschiedliche Urteile zum Thema "Mitstörer" gibt. Das Problem ist halt, dass jeder Richter zu der einen oder anderen Auffassung neigen könnte. Die Chancen, dass man sich vor einem Gericht gegen eine eventuelle Abmahnung erfolgreich wehren kann liegen so zwischen 50% (Düsseldorf, Berlin) und 0,5 % (Hamburg).
Das Problem ist nicht nur die unsichere Rechtslage, sondern auch, dass viele Richter, vorsichtig formuliert, nur eine rudimentäre Ahnung haben, wie Blogs/Foren funktionieren. Auch die Frage, wann man eine persönliche Kritik äußert und wann man eine Firma oder eine Person (was mittlerweile in der Rechtssprechung auch nicht mehr komplett getrennt wird) beleidigt, bzw. verleumdet ist völlig offen. Das geht so weit, dass seit dem Stolpe Urteil jemand auch dann auf die Unterlassung klagen kann, wenn die Aussage nicht eindeutig ist. Anders ausgedrückt steht es im Text der "taz":
Wenn sich jemand meldet und behauptet, er sei in seinen Persönlichkeitsrechten verletzt, muss die Presse sämtliche denkbaren Textauslegungsmöglichkeiten durchprüfen und dem Betroffenen versprechen, dass zukünftig eine eindeutig "harmlose" Formulierung gewählt wird...
Meiner Meinung nach läuft seit einigen Jahren in Sachen Presse- und Meinungsfreiheit etwas grundsätzlich falsch. Am besten fassen das zwei Zitate aus einer Artikelreihe des "USA erklärt" Blogs zusammen:
Denn aus Sicht der Amerikaner ist eine weit reichende Meinungsfreiheit langfristig die einzige Möglichkeit, um die Bürgerrechte zu schützen. In dem Moment, wo der Staat einen Teil der freien Rede einschränken darf, entzieht er sich damit auch zum Teil der Kontrolle des Bürgers und kann andere Verstöße vor dem Volk verstecken. Die Demokratie wird dann langsam ausgehöhlt, wie durch einen Tumor. Ohne free speech ist die Freiheit verloren.
und
Amerikaner tun sich mit diesem Prinzip schwer. Aus ihrer Sicht ist die Verfassung dazu da, um das Volk vor dem Staat zu schützen - dass der Staat die Verfassung vor dem Volk schützen soll, finden sie seltsam.
Nicht das ich die USA als Hort der absoluten Demokratie ansehen würde, aber in Sachen Meinungs- und Pressefreiheit liegt mir der Ansatz doch deutlich näher und die Frage stellt sich, wie man einen solchen Ansatz auch in den deutschen Gesetzen verankern kann.