Ich gehöre ja eher zu der Fraktion, die andere Menschen eher ungern an sich ran lassen und dieses Defizit an Nähe und Kommunikation dann irgendwie anders ausgleichen, zum Beispiel mit einem Weblog. Die Eltern bilden da keine Ausnahme. Seitdem ich ausgezogen bin, halte ich ein wenig Abstand, auch wenn wir mindestens einmal die Woche telefonieren. Der Abstand wird zu Weihnachten natürlich brutalstmöglich aufgehoben und ich freue mich schon immer lange vorher schon darauf, sie zu sehen und die Lieblingsgerichte meiner Mutter essen zu können. Sachen, die ich selber nie kochen würde, weil diese Gerichte Heimat bedeuten. Und das Wort "Heimat" ist mir sehr wichtig geworden.
Ich lebe gerne in Berlin, aber ich komme aus Bad Godesberg. Das ist meine Heimatstadt, da bin ich zur Schule gegangen und habe zu großen Teilen meine Jugend erlebt. Wenn ich dort bin, dann ist es mein Boden und ich spüre, dass dort meine Wurzeln sind. Wurzeln, die ich in den anderen Städten in denen ich bisher gelebt habe, nie verspürt habe. Und oft fehlt mir die Umgebung. Das Siebengebirge, die sanften Hügel der beginnenden Eifel und vor allem fehlt mir der Rhein. Die paar Tage, die ich im Jahr bei meinen Eltern bin, die ich in Godesberg verbringe, die fühlen sich immer so an, als ob man sich auf seiner Lieblingscouch in die Lieblingsdecke einrollt und wohlig seufzt.
Und so ist das natürlich eigentlich auch, wenn ich nach Hause zu meinen Eltern komme. Das wirklich ärgerliche an der Geschichte ist aber, dass die Eltern es immer wieder schaffen, einen innerhalb von Sekunden wieder zum Kind werden zu lassen. Man kann so eben einen sehr großen, bösen Drachen mit vielen scharfen Zähnen, der damit drohte, die Welt zu vernichten, besiegt haben, also blutverschmiert und schlammverkrustet vor den Eltern stehen und meine Mutter würde sagen: "Kind, so kann man doch nicht rumlaufen! Wenn dich jemand sieht!". Sie meint das nicht böse, aber so schaffen es Eltern, dass man seine knapp 38 Jahre Lebensalter sofort vergisst und sich wieder als das Kind fühlt, das eben noch zur Schule gegangen ist. Meine Mutter schaffte es dieses Jahr ungefähr nach 2,7 Sekunden, als sie zu meiner Begrüßung sagte: "Na, endlich hast Du mal wieder eine vernünftige (!) Hose an." Sofort wieder schuldgebeugte Schultern ob der vermeintlich schlimmen Hosen, die ich sonst so trage und sofort das große Fragezeichen über dem Kopf, was meine Mutter eigentlich unter einer "vernünftigen" Hose versteht. Ein Rätsel, das ich wohl nie mehr lösen werde.
Auf der anderen Seite ist das eine schöne Sache, dass man sich so fühlen kann. Denn ewig wird das nicht mehr so gehen. Meine Eltern werden alt. Ich kann dabei zu sehen und es macht mich nicht glücklich, auch wenn ich weiß, dass dies der Lauf der Dinge ist. Irgendwann wird es sich drehen, irgendwann sind die Eltern nicht mehr. Dann werde ich es vermissen und mich an die Momente erinnern, in denen es einen Menschen gab, der es schaffte, dass ich mich innerhalb von wenigen Sekunden wieder als Kind gefühlt habe. Ich werde dann die Gerichte meiner Mutter nachkochen und wenn die alten wohlbekannten Düfte aus Töpfen und den Pfannen steigen, dann werde ich traurig sein, dass ich nicht mehr Kind bin. Das wird allerdings hoffentlich noch ein paar Jahre dauern, denn ausgehend von dem biblischen Alter das die Ahnen beider Familien immer erreichen, wird es wohl noch etliche Weihnachten so sein, dass meine Mutter zu mir sagt: "Also nächstes Jahr kommst Du früher und dann gehen wir Dir in Bonn eine vernünftige Hose kaufen."