Es war kein guter Tag für Ilse Kottowski. Das Aufstehen fiel ihr heute besonders schwer, wie so oft in letzter Zeit. Der Radiowecker, den sie vor zwei Jahren auf der Tombola im Gemeindehaus gewonnen hatte, und endlich den schrecklich lauten Aufziehwecker ersetzt hatte, verwischte die Grenze vom Schlaf zum Wachsein sofort, doch oft fielen ihr die Augen noch einmal zu. Völlig automatisch, ohne dass sie sich hätte wehren können. Sie erwachte dann zumeist zu spät, und so begann der Tag mit einem Ärgernis, einer Abweichung. Sie wunderte und ärgerte sich zugleich. Halb sieben war doch keine Zeit, da war ihr Vater früher schon weg gewesen auf seinem schwarzen, alten Fahrrad bei Wind und Wetter. Schon um sieben Uhr saß er auf seinem Bürostuhl im Rathaus, Referat Steuer III. Er hatte eine Auszubildende und einen Assistenten in seinem Referat, und er sagte immer zu seiner Ilse "Kind, man kann sich im Leben eine Menge erlauben: Aber niemals sollte man nach seinen Untergebenen am Arbeitsplatz sein." Auch Ilse hatte sich immer daran gehalten. Solange sie gearbeitet hatte. Der blöde Unfall. Seitdem war ihr Leben etwas aus der Bahn geraten. Die Zeit allein im Krankenhaus, wo nur die Damen vom Gemeindebeirat ab und zu vorbei kamen. Oder der Herr Pfarrer. Naja, das war ja nun vorbei. "Sie schlafen schlecht, weil ihnen ein wenig Bewegung fehlt. Geistig wie körperlich," hatte der Arzt gesagt. Lächerlich. Sie war gut in Schuss. Kaum Fettpölsterchen. Ihr ganzes Leben hatte sie darauf geachtet, dass sie nicht zulegt. "Dummheit frisst!" Hatte ihr Vater immer gesagt, der selber ein schneidiger Mann gewesen war. Ilse verachtete fette Menschen. Das zeugt von Disziplinlosigkeit, von einer Art des "sich gehen lassens" die nicht akzeptabel war. Warum machen Menschen so was, fragte sie sich oft. Was für einen Sinn hat es, sich gehen zu lassen, um nachher im Fernsehen oder anderswo darüber zu klagen?
Sie schob die wenigern Krümel, die die Weißbrotscheibe auf ihrem Frühstücksbrett hinterlassen hatte, sauber zusammen. Wie immer in die obere rechte Ecke des Brettchens. Und wie immer hatte sie genau eine Scheibe Weißbrot mit Marmelade gegessen. Bei der Marmelade nahm sie sich allerdings Freiheiten. Sie wechselte gerne die Sorte. Immer nur Erdbeeren waren ihr auf Dauer etwas langweilig. Ein Luxus, sicher. Aber immerhin kochte sie die Marmelade noch selber ein, und da es niemanden gab, der sie in ihrer Auswahl hätte bremsen können, gönnte Ilse sich diesen kleinen morgendlichen Ausbruch. Warum den Tag auch nicht mit einer kleinen Freude beginnen. Ihr Vater hatte es genau so gemacht. Er frühstücke wenig, vielleicht eine halbe Scheibe Kommissbrot mit Pflaumenmus. Dazu eine Tasse Kaffee. Und schon sprang er auf sein Fahrrad. Er machte sich nicht viel aus Essen, dachte Ilse. Sie hatte seine Art wohl geerbt. Im Gegensatz zu ihrer Schwester, die im Laufe der Jahre doch sehr in die Breite gegangen war. Aber vielleicht lag das auch an den Kindern. Sie wusste es nicht, denn sie hatte ja keine. Sie wusch schnell das Messer und das Brettchen ab, trocknete beides und räumte es wieder in den weißen Küchenschrank. Dann strich sie die Tischdecke glatt und entfernte noch schnell ein paar Krümel. Im Radio liefen die Morgennachrichten. Nichts passiert.
Es war schon halb acht. Spät für ihre Verhältnisse. Es war zwar Samstag, aber das war ja nun wirklich kein Grund deswegen seinen Lebensplan zu verändern. Zudem war sie heute mit einer Bekannten aus dem Gemeindebeirat in der Stadt verabredet. Das bedeutete auch, dass sie ein wenig ihre Kleidung an die Umstände würde anpassen müssen. Natürlich hatte sie sich schon gestern Nachmittag das Kleid ausgesucht. Aber ein wenig zu Recht machen musste sie sich schon noch. Um so mehr ärgerte sie sich über die Minuten, die sie heute morgen zu lange im Bett verbracht hatte. Zwar barg ihr Zeitplan noch genügend Reserven, aber dass sie alleine an diese Reserven gehen musste, war ihr Unrecht. Reserven sind etwas, dass man für Notfälle, für absolute Notfälle, hat, und nicht weil man zu lange im Bett lag.. Aber es half ja nichts, geschehen ist geschehen. Sie überlegte, ob ihr Vater einmal verschlafen hatte. Sie konnte sich nicht erinnern. Jedenfalls nicht während seiner Arbeit. Nach seiner Pensionierung stand er ein wenig später auf. Aber nicht viel. Er hatte immer gesagt: "Wer den Morgen verschläft, hat den Tag nicht verdient." Sie beneidete ihn bis heute um seine Eleganz und seine Disziplin mit der er sich und sein Leben voran trieb.. Niemand hatte auch nur den Hauch der Eleganz und der Kraft, die ihr Vater ausgestrahlt hatte. Die anderen waren zumeist tumbe Mensche, deren Hände schneller als ihr Geist war. Die Berührungen waren unangenehm. Sie ließ sie nur einmal kurz zu. Nichts für sie. Schon gar nicht der Gedanke, das Leben mit jemanden zu teilen, den sie doch nur verachten würde, weil er immer wieder seine Vorsätze und Regeln ändern würde.
Halb neun. Mit dem Fahrrad war es eine halbe Stunde zum Bahnhof. Ilse mußte noch ein Zugticket kaufen und vielleicht auch eine neue Zeitschrift, denn die Fahrt in die Stadt war langweilig. Achja. Vielleicht einmal das kleine Telefon mitnehmen, dass ihr zu Weihnachten von der Nichte geschenkt worden war. Sie machte sich nichts aus diesem Ding. Warum sollte sie ein Telefon haben, dass sie draußen benutzen kann, wenn sie fast immer zu Hause ist? Aber in der Stadt... kurzentschlossen packte sie es ein. Es war kalt draußen. Noch war der Frühling weit weg und sie wusste, dass sie nicht ewig um diese Jahreszeit mit dem Fahrrad durch die Gegend fahren konnte. Es war überhaupt ein Wunder, dass sie nach dem Unfall wieder fahren konnte. Ihre ersten Versuche damals waren so wacklig wie die, als sie vier oder fünf war und ihr Vater sie auf der Fahrrad der Schwester gesetzt hatte, damit sie üben konnte. Es tat ihr noch alles weh, die Narben schmerzten, aber sie musste ja nun etwas zu Essen im Haus haben. Wenigstens Kartoffeln vom Biohof. Jeder Tritt in die Pedale tat ihr weh und sie war versucht abzusteigen, das Fahrrad hin zu werfen, aber sie hörte immer wieder die Stimme ihres Vaters. „Komm, mein Mädchen. Du schaffst das.“ Also schaffte sie es. Auch heute, wo sie keine Schmerzen mehr hatte, aber bitterlich fror. Das Kleid war doch zu dünn. Sie trat ein wenig schneller in die Pedale.
Halb zehn. Der Zug ratterte sehr, sehr langsam über die Gleise. Dann blieb er stehen. Sie blickte nach draußen.
"In Bad Bodenteich (Kreis Uelzen) wurde am Samstagmorgen gegen 9:30 ein Pärchen gesichtet, das sich 'einem zwischenmenschlichen Vergnügen' hingab, so umschrieb es die Polizei. Eine Frau hatte die beiden aus einem Zug beobachtet und die Polizei verständigt." [Quelle]