Barmenschen sind selber die besten Kunden. Sowohl in der eigenen Bar, wie auch in fremden. Es geziemt sich nach der anstrengenden Schicht gemeinsam zwei bis acht Bier zu trinken und gegebenenfalls weiter zu ziehen. Die Angestellten dieses Pubs waren ein wilder Haufen, eine irisch-kölsche Mischung plus einem Quotenengländer und einem Berliner. Auf jeden Fall alle trinkfest und selten hatte einer was besseres zu tun, als nach getaner Arbeit weiter zu ziehen. Dafür bot sich zumeist die "Schweizer Tenne" an, ein von außen völlig schwarz verkleidete Kneipe mit Butzenglasscheiben und einer schweren Holztür. Der reine Zufall ließ uns den Laden entdecken, als wir auf der schnellen Suche nach mehr Bier halblaute ABBA Musik aus dem Laden vernahmen, und Kirstin, eine ebenso dünne wie trinkfeste Irin mit dem Satz "This sounds great, come on boys" die Kneipe stürmte.
Es bot sich ein recht desolates Bild. Drinnen war es duster wie in einem Kohlenkeller, zwei Gäste lagen mit den Köpfen auf dem Tisch. Hinter der riesigen, komplett mit Kupfer verkleideten Theke, stand ein Mensch. Ungefähr Ende 30, 2,80 Meter groß, Schulter wie ein Ork nur ungefähr dreimal so breit. Vor sich einen veritablen Bierbauch über den sich ein Traum von verblassten bläulichen Hawaiihemd spannte. Dazu: eine Möchtegern Vokuhila Frisur, Möchtegern deswegen, weil vorne einfach zu wenig Haare übrig geblieben war. Hinter ihm im Regal: Ein abgeranzter Plüschhase. Ein zentrales Element der Kneipe in Babyblau. Mit mürrischem Blick wurden wir begrüßt. Diese Art von Störung war man offenbar morgens um 2.00 Uhr nicht gewohnt, ein "Ich mach aba gleich zu" bestätigte die Vermutung. Mit einem Wort: Wir waren begeistert, und sogar sehr glücklich als der Riese uns selbst gemachte Gulaschsuppe (es war die Mutter aller Gulschsuppen) anbot und uns dann doch erst morgens um 6.00 Uhr aus dem Laden warf. Der letzte Satz, kurz bevor er die Tür zuwarf: "Kommt ihr morgen wieder?" Zustimmendes Nicken. "Gut." Am nächsten abend stand neben dem Riese ein alter Zwerg. Ähnliches Hemd, noch größerer Bauch, schlohweiße lange Haare und ein Bart wie von Antje, das Walross, nur größer. Das waren sie also, die beiden Inhaber der "Schweizer Tenne", die von uns intern nur "Gorilla" genannt wurde, eben wegen des Riesen hinter der Theke. Die beiden waren wie Pat und Patachon, wie Dick und Doof. Andauernd beschimpften sie sich, andauernd waren sie aufeinander sauer. Immer wankten sie zusammen raus.
Nach und nach entwickelte sich eine echte Freundschaft zwischen der Belegschaft des Irish Pubs und des Gorillas. Irgendwann fingen wir an, die notorisch letzten Gäste ins Gorilla rüber zu schicken und gerade am Wochenende machten wir den Laden krachvoll. Walross und Gorilla waren sehr glücklich, denn der Laden war ihre einzige Einnahmequelle. Die beiden gingen soweit, dass ihre Lebensgewohnheiten nach den unseren ausrichteten und den Laden einfach erst um 1.00 Uhr aufmachten. Sie dankten uns die Gästebeschaffung damit, das nachts um 5.00 Uhr für uns kochten, dass sie den Laden aufließen bis wir gegangen waren. Sie wurden zu Institutionen in unserem Leben, zu Helfern, zu Freunden. Hatte man ein Problem, eine Nacht bei Gorilla an der Theke und man war a) betrunken und hatte b) das Gefühl das einem etwas sehr gutes, warmes und herzliches widerfahren war. Und da saß man und plauderte über das ehemalige Alkoholiker Dasein von Gorilla, und dann wurde Walross immer sehr ruhig, sehr ängstlich, und man musste ihm immer versprechen, das man aufpassen würde, das Gorilla auch nichts trinken würde. Nie mehr Alkohol für Gorilla, der gerne schon mal mitgetrunken hätte, von uns dann aber immer ausgeschimpft wurde.
Die Freundschaft ging so weit, das die beiden uns den Schlüssel zu ihrer Kneipe in die Hand drückten, weil sie mal in den Urlaub fahren wollten. Die? Zusammen in den Urlaub? Überhaupt waren die Familienverhältnisse der beiden wirr. Zunächst schätzte man, dass es sich im Vater und Sohn handeln müsste, später stellte sich heraus, dass die beiden schlicht und ergreifend ein Paar waren. Das vermutlich merkwürdigste Schwulen-Pärchen von Köln. Das zänkischste, das liebevollste, das komischste.
Eines Abends war der Laden zu. Auch am nächsten Abend. Ein Kollege, der mit den beiden sehr eng befreundet war, versuchte sie in ihrer Wohnung zu besuchen, aber niemand machte auf. Erst drei Tage später war das Gorilla wieder auf. Alles war normal, der Riese hinter der Theke, die Gulaschsuppe dampfte. Freundliche Begrüßung. Er schiebt die Teller mit der Suppe über den Tresen und sagt "Esst mal, ist die letzte. Gibt’s jetzt nich mehr" Wie? Was? Und dann wurden seine Augen ganz klein und die riesigen Schultern fingen ganz leicht an zucken, und er sagte "Er hat da einfach gelegen. Die Zigarette noch in der Hand" Walross war tot. Morgens waren die beiden aufgestanden, das übliche Frühstück, dann hatte sich Walross hingelegt, sich eine Zigarette angezündet und war augenblicklich eingeschlafen. "Aber gelitten hat er nicht" sagte Gorilla, unter Tränen wenige Minuten später.
Innerhalb von Minuten klappte dieser riesige Mensch in sich zusammen. Der Tränenstrom wollte nicht mehr aufhören, sein Körper wurde gebeutelt von Schluchzattacken, er winselte vor inneren Schmerzen, vor Angst und Hoffnungslosigkeit. Es kam an Licht, das Walross ihn vor 15 Jahren aus der Gosse geholt hat. Gorilla der Stricher, Alkoholiker, ohne Ausbildung, ohne Arbeit, ohne Wohnung, ohne Geld. Walross nahm ihn auf. Gorilla dankte es ihm, in dem er immer wieder abhaute, nicht ohne Wertgegenstände mitgehen zu lassen. Walross blieb ruhig, wartete, holte ihn wieder aus der Gosse, nahm ihn so lange und immer wieder auf. Er beschenkte ihn, unter anderem eben auch mit jenem abgeranzten Plüschhasen, der immer hinter der Theke im Regal stand, und den er jetzt heulend, wie ein Kind, nach Luft ringend an sich drückte. Warum, warum, warum. Wir wußten es auch nicht.
Von da an hatten wir einen therapeutischen Schichtwechsel. Einer brachte ihn nach Hause, der andere holte ihn morgens samt Frühstück ab. Der nächste machte mit ihm die Kneipe nachts auf, der andere erledigte Einkauf und Buchhaltung. Nach einem Monat hatten wir ihn wieder soweit, er sah endlich wieder gesund aus, er putze alleine die Kneipe, er kaufte ein, er arbeitete und er sagte andauernd: "Wat seid ihr für jute Menschen. Wat hab isch ein Glück"
Eine Woche später war der Laden wieder zu. Erschrocken und alarmiert suchten wir Gorilla, aber der blieb verschwunden. Er war nicht zu Hause, er war nicht "auf der Rolle", er war einfach weg. Nach zwei Tagen verständigten wir die Polizei, die auch nicht weiter kam. Gorilla blieb verschwunden, bis ein Kollege, Franklin, ihn zufällig morgens um 7.00 Uhr im "Roxy" völlig betrunken, stinkend, fertig an der Theke fand. Franklin sah ihm in die Augen, und da wusste er was passieren würde. Er sagte nichts, weil es nichts zu sagen gab, weil er wusste, das es so oder so passieren würde. Der letzte Satz, den Gorilla sagte war: "Ich kann einfach nicht ohne ihn. Ich will wieder bei ihm sein." Innerhalb von drei Wochen hat sich Gorilla tot gesoffen. Er hat sich einfach so viel Alkohol in seinem vom Alkoholismus angeschlagenen Körper geschüttet, so lange an seinem Herz gerissen, bis der Körper seinem Wunsch nachgegeben hat. Und wir konnten einfach nichts machen, außer auf seiner Beerdigung in einer leicht pathetischen Handlung den Hasen auf den schmucklosen Sarg zu legen.