Mittwoch, 14. Mai 2003

Es war immer dasselbe. Jedes zweite oder dritte Wochenende. Schon am Wochenende vorher war mein Vater in der Garage verschwunden. Und je näher das eine Wochenende kam, desto mehr wurde rumgeschraubt und Benzinzusätze angeschleppt. Damals gab es noch jede Menge Benzinzusätze. Ungefähr so viele, wie es Potenzmittelwerbung in Jerry Cotton Heftchen gab, und textlich gesehen versprachen auch beide in etwa dasselbe. Man erkannte angeblich gutfuntionierende Benzinzusätze am Geruch. Je weniger Benzingeruch, bzw. je mehr Benzinzusatzgeruch, aus dem Flammrohr rauskam, desto besser wirkte der Zusatz. Mindestens 3PS, raunten sich die Fahrer gerne zu. Ich habe soviele Abgase im Fahrerlager des Nürburgrings eingeatmet, dass ich wohl bis heute blind jeden Benzinzusatz erriechen kann.

Immer wenn mein Vater anfing den Zusatz ins Benzin zu schütten, war es Donnerstag. Dann war der Wagen fertig geschraubt, wurde auf den Hänger gefahren und am nächsten Tag fuhren wir alle zusammen zum "Ring". Mein Vater war praktischerweise mit den Verantwortlichen gut bekannt, und bekam so immer die Garage mit der Nummer 21. Es ging um die Nordschleife. 27,5 km bessere Landstrasse mit null Auslaufzone. Hobby- und Profirennfahrer gemischt. Und jedes Wochenende flog mindestens einer ab. Das erkannte man immer daran, dass die Rennleitung über Lautsprecher sagte: "Bitte jemand von der Boxencrew der Startnummer 123 zur Rennleitung". Da zog man kurz scharf Luft zwischen den Zähnen ein und hoffte das der Unfall an einem nicht allzu schnellen Streckenteil passiert ist. Wenn man "Fuchsröhre", "Bergwerk" oder "Schwedenkreuz" hörte, wurden die Sorgenfalten tiefer. Bei "Hatzenbach", "Adenauer Forst" oder "Brünnchen" konnte man erleichert aufatmen. Aber gestorben ist selten einer, denn das waren ja Hobbyfahrer, die hatten mehr Angst um das teure Auto, und sind deswegen selten über das Limit. Mein Vater sagte mir mal, rund eine Woche bevor er seinen Opel Ascona B Höhe Pflanzgarten völlig zerlegte und zwei Tage im Krankenhaus lag:"Der Ring ist nur für den gefährlich, der kein Respekt vor seinem Auto hat."

Für einen kleinen Jungen wie ich es damals war, bedeuteten Rennwochenenden immer ein Spektakel. Jede Menge Autos, der Geruch von Benzin, Abgasen. Der ohrenbetäubende Lärm eines Achtzyinders dessen Grollen so tief war, dass man Schläge in die Magengrube bekam. Außerdem ist es als neunjähriger unglaublich Selbstbewußtseinbildend, wenn man mit dem Aufkleber "Boxengasse" auf der Jacke rumlaufen kann, die einem von den anderen neunjährigen Jungs unterscheidet, deren Väter keine Rennfahrer waren. Auch in der Schule machte sich eine locker dahin geworfene Bemerkung über diesen oder jenen Rennfahrer immer gut. Mit anderen Worten: Nach einem Rennwochenende war ich zwei Tage lang ein arroganter Kotzbrocken.

Das größte für einen Auto- und Rennbegeisterten Jungen war natürlich die Formel Eins. Ich kannte alle Teams, alle Fahrer, alle Motoren. Aber ich war vorher noch nie bei einem Rennen gewesen. Das sollte sich ändern, als mein Vater über dubiose Quellen schon damals nicht eben billige Karten ergatterte. Inkl. Fahrerlager. Das Fahrerlager war damals nicht so abgeschottet wie heute. Die Autos standen unter Zelten, die Mechaniker schraubten rum und man konnte sich daneben stellen und Fragen stellen. Die Luft war voller Gerüche. Scharfes Benzin, dumpfes Öl, ein wenig Bratwurstgeruch wehte von der Strecke rüber. Menschen wuselten hin und her und die Fahrer liefen mit lässig runtergekrempelten Overalls um ihre Autos herum. Man hörte tausend Sprachen, klirrendes Werkzeug, plärrende Radios und dann wurde kurz ein Motor angelassen, und dann zitterte der Asphaltboden, und schon an der Lautstärke wurde klar: Mit diesen Maschinen ist nicht gut Kirschen essen.

An der Hand meines Vaters lief durch dieses Fahrerlager und sah die, die ich bisher nur aus den Quartettspielen kannte. Carlos Reutemann. James Hunt. Mario Andretti. Emerson Fittipaldi. Ich war ein sehr kleiner glücklicher Junge, als mir Hans Joachim Stuck einen "March" Aufkleber schenkte. Unser Rundgang war fast beendet, als wir an die Garage meines Vaters kamen. Die Garage mit dem kürzestem Weg zur Strecke. Da waren die Weltmeister drin. Ferrari. Und vor der Garage hockte Niki Lauda neben seinem Auto, das bar jeder Verkleidung war und sprach mit seinen Technikern. Der Wagen sah aus der Nähe völlig anders aus, als auf den Bildern in der Autozeitungen oder Quartetts. Ein geducktes Metallmonster, vorne was Aluminium, eine Sitzschale in der Mitte, gefolgt von einem 200 Liter Tank, hinten 600 PS dran. Unglaublich filigran, zerbrechlich, furchterrregend.

Ehrlich gesagt hatte Lauda das Aussehen eines Hasen und nach all den großartigen Menschen die vorher schon gesehen hatte, kam er mir klein, verkniffen und unsympathisch vor. Das war etwas enttäuschend, denn Niki Lauda war als Weltmeister in meinem Quartett sowas wie die unschlagbare Karte mit Joker. Ich kann mich noch daran erinnern, dass wir minutenlang neben Niki Lauda standen, ihm zusahen, wie er mit dem Techniker sprach, wie sie an irgendwelchen Aufhängungsteilen rumzerrten und Kabel am riesigen 12 Zylinder zur Seite schoben. Irgendwann schaute er uns an, grinste schief, stand auf und mein Vater stellte ein paar technische Fragen, die mich nicht interessierten. Aufhängung. Reifen, Einspritzung. Langweilig. Ich wollte wissen wie schnell das Auto war, immerhin war doch das Vorgängermodell mit 340 km/h in meinem Quartett angegeben. Aber Lauda meinte nur, dass das auf die Getriebeübersetzung ankommen würde. Toll. "Ich weiß nicht" wußte ich auch vorher.

Am Renntag waren wir nicht bei Start und Ziel. Wir hatten zwar Karten dafür, aber mein Vater meinte, dass sei langweilig da, da würden die Wagen so schnell sein, dass man sie kaum sehen könne. Also taten wir das, was hundertausend andere Rennfans an dem Tag auch machten. Wir latschten kilometerweit durchs Gelände, bis wir endlich am Streckenabschnitt Mühlenbach angekommen waren. Da stand man direkt an der Strecke auf einer Böschung und schaute aus drei Meter Höhe ins Cockpit und sah den Fahrern bei der Arbeit zu. Jedenfalls für drei Sekunden. Man hatte allerdings auch einen großartigen Blick auf weitere Teile der Strecke. Das Rennen lief schlecht für Niki Lauda. Er fuhr irgendwo weit hinten, vielleicht fünfter oder so, auf jeden Fall heizte ihm James Hunt, der in Führung lag, deutlich ein. Ich weiß dann noch, wie man plötzlich, nicht weit entfernt, eine Rauchsäule sah. Man sah sie sehr lange und der Rauch war sehr schwarz. "Da hat einen erwischt", murmelten die Fans, und ich dachte: "Hoffentlich ist es der blöde James Hunt." Nach den ersten aufgeregten Minuten, in dem man spekulierte wer das nun gewesen sein könnte, wurde es ruhig, und alle starrten einfach nur noch auf die große, sehr dunkle Wolke, die fast kerzengerade in der Luft stand und sich kaum zu bewegen schien. Dann kam die Durchsage über Streckenlautsprecher, dass es Niki Laudas Wagen war, der in Flammen aufgegangen sei. Man wisse nicht, ob er noch leben würde. Wir sind dann nach Hause gefahren, meine Mutter wollte meinem Vater das Rennfahren verbieten, aber der meinte immer nur "Quatsch." Was könne er dafür, dass sich der Lauda nicht auf dem Ring auskennen würde. Die würden ja schließlich nur einmal im Jahr da fahren, er immer, und ausserdem nicht so schnell. Aber da war ich schon auf der Rückbank eingeschlafen.

Permalink