Montag, 16. Dezember 2002

Lieber Doc,

das Nachdenken und Schreiben über solche Dinge ist noch eine Fingerübung. Das ist wohl war. Man lebt sich die Seele wund, und fragt sich, warum man das eigentlich macht. Wofür man sein Leben aufopfert, wenn man doch nur für jedes bißchen Freiheit, was man sich zu erkämpfen sucht, oder was man anderen versucht zu schenken, mit Drangsalierungen und Mühsal verbunden ist. Wenn alles, was man leben will, von aussen wieder scheinbar kaputt gemacht wird, so dass man am Ende mit vielleicht leeren Händen da steht. Ich sag Dir was: ich bin immer noch ein schrecklicher Idealist. Ich kann nicht viel. Die einzige Gabe, die mir Gott oder wer auch immer geben hat, ist Gabe, den Versuch zu unternehmen, meinen Gefühle und Emotionen einigermassen wahrhaftig ausdrücken zu können. Mehr habe ich nicht. Mehr kann ich anderen Menschen, die ich nicht kenne, nich geben. Aber ich schreibe, weil ich die Hoffnung habe, dass ich vielleicht ab und zu einen Menschen mit meinen Worten, die ich mir aus Seele schneide, erreichen kann. Nur einer. Und dass finde ich, wäre ein Sieg. Du bist Arzt. Das ist was anderes. Du richtest ein Bein, einen Magen oder ein Herzleiden und der Mensch kann weiter leben, hoffen, lieben, fühlen, denken, sein. Wenn ich das mit meiner Arbeit vergleiche, dann möchte ich manchmal vor Scham umdrehen und meinen Mund halten.

Aber Du hast recht. Das "Gut" sein, wird einem immer schwerer gemacht, und man ertappt sich schon seit Jahren dabei, Sätze zu sagen wie "Ach, ich bin froh, wenn ich meinem Freundeskreis etwas geben kann." Das ist sicher gut und schön, aber das sollte am Anfang stehen, denn am Ende der Möglichkeiten. Altruismus ist nicht mehr gefragt. Auch Egoismus nicht mehr. Das Überleben steht im Vordergrund. Ich kenne soviele Menschen, die am Rande des Existenzminimums leben. Ich meine damit nicht Menschen, die auf der Strasse leben, sondern Menschen, die nicht mehr ihre Träume leben können, und sich mit irgendwelchen Jobs in ein permanentes delirium tremens trinken. Und dabei sah es doch mal so aus, bzw. dabei hat man uns doch mal gesagt, dass man in der Demokratie alles machen, und alles leben kann, was man sich erträumt. Der persönliche Anspruch entscheidet, sicher. Aber wenn man den Matrialismus nicht mit einer Villa und einem Porsche gleichsetzt, dann kann man seinen Traum von Freiheit leben, ohne dass man davon abgehalten wird. Aber das war wohl eine Lüge, die wir nur zu gerne geglaubt haben. Wer hat nicht die Worte von Rousseau in Erínnerung, die sagten, dass der Mensch ohne Ketten geboren sei: Jede Kette sein ein Stück Unfreiheit. Und wie weit sind wir heute von den Idealen der Freiheit entfernt? Ich hab mal eine Band aus dem ehemaligen Ostblock (Laibach) gefragt, ob sie sich nach der Wende freier fühlen würden, als vorher. Die Antwort war verblüffend. Freier schon, aber der Preis sei zu hoch. Als sie anfingen, sich mit dem "System" auseinander zusetzen, da war es leichter Künstler zu sein, weil man etwas hatte, gegen dass man sich wenden konnte. Seit der Wende sei schwerer geworden, denn plötzlich sei es nicht mehr eine greifbare und repressive Ideologie, gegen die man sich wenden konnte, sondern ein abstraktes Gebilde aus Kunst, Kommerz, Geld und Ignoranz. Ein System, dass so vielschichtig sei, so viele Arme hätte, dass man machtlos davor stehen würde, weil man sich gegen jeden Arm wehren könnte, weil es einer Sysiphos-Arbeit gleichen würde, die Krakenarme abzuschlagen. Es sei sinnlos. Und so haben wir auch das Gefühl, das es sinnlos sei, gegen etwas anzukämpfen, dass wir nicht verstehen. Teils weil wir nicht verstehen, warum Antworten, die naheliegend sind, von Lobby vereitelt werden, teils weil wir gelähmt sind, von der Art und Weise, wie unsere Freiheit eingeengt wird. Wir haben schon lange aufgegeben, uns etwas aufzubauen. Das ist eine Mär aus dem 60er Jahren. Wir haben auch schon lange aufgegeben einen Status quo aufrecht erhalten zu wollen. Wir haben vor allem aufgegeben, etwas für andere, oder auch nur den Status quo für andere aufrecht zu erhalten. Wir sind in einem Rückzugsgefecht und hören täglich Durchhalteparolen, wie weiland 44. Es wird besser. Die Wirtschaft wird sich erholen. Und je länger wir den Parolen zu hören, desto gelähmter werden wir, weil doch so gerne glauben würden, dass die Parolen wahr sind. Und je länger wir das Glauben, desto mehr sind wir willfährige Kanninchen, die weitere Einschitten in ihre Träume dulden, weil wir doch meinen, dass es nur für eine Übergangszeit ist, dass alles irgendwann besser wird. Aber solange wir nicht begreifen, dass jeder Einschnitt nur eine Kette mehr ist, die uns einschnürt, uns unsere Träume wegnimmt, solange wird es wohl weiter gehen.

Ich kenne keine Lösung für das Problem, ausser, dass es Zeit ist, sich Gedanken zu machen, ob und wie ein System, dass auf persönlichen Profit basiert, noch tragbar ist. Ich könnte jetzt noch anfügen, dass es uns besser geht, als den 30 Millionen Menschen, die jährlich an Hunger sterben. An Hunger! Aber das ist kein Grund, dem System zu danken, in dem wir überleben dürfen, sondern eher ein Grund zu fragen, wie man in einem System leben kann, dass so etwas zulässt. Und vor allem: Wie lange es dauert, bis dass dann auch mal die anderen merken.

Es ist Zeit für eine neue Philosophie. Und die kann nicht beginnen, wenn alle verzweifelt jammern und das System beschimpfen. Sie kann nur dann beginnen, wenn man anfängt über Alternativen nach zu denken, und über die Frage, ob das System einen wirklich frei macht, oder nur die Illusion von Freiheit suggeriert. Aber das laute Nachdenken, dass ist wichtig.

Beste Grüße Don

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