Endlich wieder zuhause. Erst Messe in Düsseldorf, dann über eine Woche Projektarbeit in München. Jetzt also wieder Berlin und das volle Kontrastprogramm. Laut, dreckig, ungelackt . Und gegenüber sammeln sich schon die Obdachlosen, obwohl die Sozialstation das kostenlose Essen erst in einer halben Stunde ausgeben wird.

Pause also von diesen breitbeinig-selbstgefälligen Junggeschäftsmännern mit Genie-Anspruch und ihren strohdummen Marketing- und/oder PR-Tussen. Die, die immer fast ohnmächtig werden, wenn statt üblichem Tandaradei mal Tacheles geredet wird und die schon ein „Warum eigentlich...?“ aus dem Konzept bringt. Herrje, was bin ich meine Vorurteile leid! Rechthaben kann so langweilig sein.

Unrecht haben hingegen kann richtig Spass machen. So wie neulich, am zweiten Messetag: Ich hektike durch die Halle und frage am Stand nach Herrn Z., dem Geschäftsführer. Den gibt es hier nicht, Herr Z. ist nämlich „der Feind", erfahre ich. Beim schnellen Blick in den Terminkalender bin ich wohl in der Zeile verrutscht. Klar, der Geschäftsführer hier heisst X. und ihn soll ich heute zum ersten Mal treffen. Peinlich das, aber nicht zu ändern. Der verständnisvolle Vertriebsmitarbeiter parkt mich an einer etwa 12-sitzigen Bar. Diese Firma leistet sich offensichtlich ein deutlich größeres Messebudget als ihr Feind

„Herr X. ist noch im Gespräch. Sehen Sie, da drüben auf dem Sofa, der mit der albernen Gesichtsbehaarung...“, meint die plötzlich neben mir stehende PR Frau leise und grinst. Mit ihr habe ich hier nicht gerechnet. Gestern hatten wir uns beim Bier noch über die Legionen von ‚Visionären’ lustig gemacht, die in diesem Geschäft auch schon mal reich und berühmt werden wollten, nicht jedoch über unsere aktuellen Missionen gesprochen. Frau Y. ist einer der wenigen mir bekannten PR Frauen, die Grips, Humor, eine Konfektionsgröße deutlich über 36 und eine Wellenlänge haben, bei der ich mich nicht verbiegen muss. Kleine Despektierlichkeiten, wie die über ihren Kunden gerade, gehen also völlig in Ordnung.

Herr X. winkt kurz vom Sofa rüber. Auf die Entfernung hin sieht er ein bisschen aus wie einer dieser Berlin-Mitte-Jungs, die sich ihre „Ich bin ein Kreativer und bald komm ich ganz groß raus“ Attitüde genauso gut als Spruch auf die Stirn tätowieren könnten. Strähnig gegelte Haare, dazu ein schnurdünner Backenbart hart am Gesichtsrand entlang, mit Kinneinfassung, Linie über der Oberlippe und einem etwas dickeren Strich, der mittig von der Unterlippe zum Kinnende verläuft. Jesses. Das wird garantiert eins dieser Gespräche, in dem mich ein bis zum Erbrechen selbstreferenzielles Gegenüber davon überzeugen will, was für ein prächtiges Alphatier es ist und zu welchen Höhen es seine Firma noch führen wird. Heute die Welt, morgen das Sonnensystem. Bescheidenheit können Solche kaum buchstabieren. Das lehrt die Erfahrung.

Herr X. ist durch mit seinem letzten Gespräch und kommt an die Bar. Von Nahem hat er zwar immer noch einen albernen Bart, aber wie ein Mittehüpfer sieht er nicht mehr aus. Eher so knapp mittelaltes Kreuzberg mit eigenem Mietshaus, Solarzellen auf dem Dach und kleiner, mäßig interessanter Kunstsammlung . Nicht wirklich besser also. Den Junggenie-Bonus, wenn er so was je gehabt haben sollte, hat er wahrscheinlich vor mindestens 10 Jahren aufgebraucht. Ende 30, Anfang 40 wird er sein, es sei denn er hat viel rumgesumpft im Leben oder kommt einfach aus einem der schlechteren Genpools.

Knappe, freundliche Begrüßung, verbindlicher Handschlag. „Och nö, bitte nicht wieder auf dieses rote Sofa,“ meint er zur PR Frau, die uns vorstellt. „Lassen Sie uns mal in Ruhe hier an der Theke sitzen. Die Scheinwerfer dahinten machen mich völlig fertig...“. Frau Y. zwinkert mir zu. „Wasser, ich brauch erst mal Wasser“ sagt der Herr Geschäftsführer Richtung Tresenkraft, ignoriert das eilig hingestellte Glas, greift sich die kleine, grüne Flasche und leert sie auf einen Zug. „So, jetzt ist’s besser“, meint er, bestellt sich noch ein Pellegrino und dreht sich mir zum ersten Mal ganz frontal zu. Mit offenem, neugierigem Blick; selbstbewusst aber erstaunlicherweise ohne Selbstgefälligkeitskomponente. Ich bin ein bisschen irritiert, weil er im Gesicht zu den Haarstrichen noch einen dicken, dunkellilafarbenen Punkt zwischen dem rechten Augeninnenrand und Nase hat. Schön anzuschauen ist das alles nicht. Aber egal, der Blick ist gut, die Stimme nicht unangenehm; ein ganz typischer Bluffspacke scheint er nicht zu sein. Und selbst wenn, ich bin schließlich Profi.

Abschätzen und Aufwärmen dauern keine zwei Minuten. Die PR Frau grinst süffisant und zieht sich zurück. Herr X. und ich sind im Gespräch. In einem richtigen. Statt über seine Großartigkeit und die seiner Firma reden wir über überforderte Agenturen, aufgeblasene Berater, wundergläubige Marketingmanager, den „Web 2.0“- Wahn, Wasweißich. Viel, schnell und ziemlich einer Meinung. Irgendwann zwischendrin, ich denke nebenbei gerade über diesen lila Punkt nach und kategorisiere ihn spekulativ mal als schlecht verheiltes Relikt einer Geschwürentfernung, klickt plötzlich etwas im Kopf. Hoppla, hier findet ja gerade eine echte Begegnung statt. Mit fest verschränkten Blicken, vergnügtem Interesse aneinander und einem Wohlwollen, das mit schlichter Libido wenig bis nichts gemein hat. Spontane, nicht herbeigeredete Anziehung. Spontanmögen war lange nicht.

Klar sehe ich ab und an appetitliche Objekte. Auch mal Anwärter für Ernsthafteres, die man sich mit etwas Bastelei am eigenen Überbau mögicherweise ausreichend spannend und passend hinzimmern könnte, und die so vielleicht sogar ein bisschen durch die Romantikmaschine drehbar wären. Aber das hier ist was anderes, ganz was anderes. Das ist spritzig, komplett unaffektiert und fühlt sich sehr lebendig. Echt und lebendig war lange nicht.

Und dann ist er auch schon wieder vorbei, der Moment. Die nächsten Termine rufen. Schade, ja find ich auch; hat wirklich Spass gemacht mit Ihnen, dito; klar Geschäft geht nun mal vor, ist eben so; aber Anknüpfen wär schön, ja. Bei Gelegenheit halt. Irgendwann.